Abendland
war es, die vorschlug, die Sommer nicht mehr in Portugal zu verbringen. Sie flogen nach Amerika, mieteten ein Auto, fuhren von New York über den Süden nach New Mexico. Oder sie verbrachten die Semesterferien in England oder in Finnland oder blieben zu Hause. Gedanken an Daniel bedeuteten ihr wenig. Erst 1961 fuhren sie wieder nach Lissabon, diesmal zusammen mit mir. Carl hielt seine Gastvorlesung an der neuen Universität.
»Ich habe es wieder getan. Keine Spur von Sehnsucht. Ich hatte nie Sehnsucht nach Daniel gehabt. Wenn du mich fragst: Warum wieder? Einfach nur, weil ich die Möglichkeit dazu hatte? Das kann nicht richtig sein. Weil auch noch etwas anderes in mir war und weil ich die Möglichkeit dazu hatte. Wir hatten uns wieder fast zehn Jahre nicht gesehen. Aber wie ich Daniel kannte, durfte ich damit rechnen, daß sich in seinem Leben nichts geändert hatte. Daß er also immer noch in der Personalabteilung des bakteriologischen Instituts arbeitete. Ich patrouillierte am Nachmittag durch die Travessa do Torel, und es war, wie ich erwartete: Er trat auf die Straße.«
Sie trafen sich in Hotels. Daniel hatte inzwischen zwei Kinder. Er sei nicht glücklich, sagte er. Er wurde bald fünfzig. Er sagte, ihm sei, als wäre er erst jetzt erwacht. Er habe ein Leben lang geschlafen. Margarida wußte, das hatte alles nichts oder doch nur wenig mit ihr zu tun.
»Wenn ich es wieder zulasse, dachte ich, wird es diesmal gefährlich. Aber ich habe es zugelassen.«
»Warum gefährlich?« fragte ich.
»Für ihn. Und damit auch für mich. Ich habe einen Trieb in mir, Leute zu retten. Er sagte, er habe zwei gute Gründe, sich zu Tode zu trinken: das, was geschehen war, und das, was nicht geschehen war. Er sah besser aus denn je. Ich wußte nicht, was mit mir los war, und ich kann es auch heute nicht beschreiben. Ich war wie unbeteiligt. Aber mir war klar, wenn nicht etwas geschieht, werde ich tun, was unmöglich getan werden darf, und ich werde es in Wahrheit nicht wollen. Nämlich, daß Carl und ich uns trennen. Das meine ich. Als du mit Carl die Woche in São Paulo warst, als dir der liebe Gott erschienen ist, in dieser Woche war Daniel bei mir. In der Rua do Salitre, ja. Zum erstenmal hat er in unserer Wohnung übernachtet. Ich wollte es. Er ist einfach von zu Hause weg. Hat seiner Frau nichts gesagt. Nach zwei Tagen erst hat er sie angerufen. Sie war verrückt vor Sorge. Ich habe sie aus dem Telefonhörer weinen hören.«
Als Carl und ich aus São Paulo zurückkamen, erzählte sie ihm alles. Carl blieb ruhig. Er werde über eine Lösung nachdenken, sagte er.
»Wie ging es weiter?« fragte ich Margarida.
»Irgendwie und nicht. Ich habe Daniel getroffen. Carl wußte es. Und Daniels Frau wußte es auch. Beide haben es akzeptiert. So sah es aus. Sie haben es uns leichtgemacht. Beide. Als Carl und ich nach dem halben Jahr wieder in Innsbruck waren, war es vorbei. Für mich war es vorbei. Ich wollte nie wieder nach Lissabon. Ich bat Carl, die Wohnung aufzugeben. Das hat er getan. Irgendwann kam ein Brief von Daniels Frau. Darin stand, daß Daniel gestorben sei. Ich weiß nicht, woran. Das hat sie nicht geschrieben. Und ich habe mich nicht erkundigt. Ich weiß auch nicht, wo er begraben liegt.«
Carl aß einen Bratapfel, ich drei. Wir saßen vor dem Kamin. Schließlich sagte er und sah mich dabei an: »Margaridas Geschichte kennst du ja. Sie hat sie dir ja selbst erzählt. Ich weiß es. Es gibt sicher einiges hinzuzufügen. Einiges, das sie selbst nicht wußte. Auch entspricht ihre Version nicht zur Gänze der Wahrheit. Aber nicht heute. Heute abend ein anderes Thema.«
Zweiter Teil: Europa
Fünftes Kapitel
1
Im Mai 1962 besuchte der Dominikanerpater Frederik Braak im Auftrag der Congregatio pro Causis Sanktorum Carls Großkusine Kuni Herzog in ihrem Haus in Göttingen. Pater Braak führte mit der Achtzigjährigen ein langes Gespräch – 12 Tonbänder à 20 Minuten – über die Philosophin und Pädagogin Edith Stein. Aus den Erinnerungen von Kuni Herzog wollte die Kongregation im Prozeß um die Seligsprechung Erkenntnisse gewinnen, die sich in Argumente pro oder contra fassen ließen. Das Interview nahm vor allem Bezug auf den Sommer und den Herbst 1914, in dem die beiden Frauen viele Stunden miteinander verbracht hatten. Die Aussagen von Kuni Herzog hätten, so sickerte später durch – erzählte mir Carl –, in der Kongregation zu einer heftigen Debatte geführt. Es sei ernsthaft diskutiert worden, der
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