Abendland
Gläubigenschar in der Person von Edith Stein eine Heilige zu geben, an die sich Suizidgefährdete in ihrer Not wenden könnten.
Edith Stein und Kuni Herzog trafen einander zum erstenmal in der Konditorei Cron und Lanz in der Weenderstraße. Edith Stein war damals dreiundzwanzig, Kuni Herzog bereits zweiunddreißig. Es war Sommer. Und alles war anders. Ende Juni waren der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine morganatische Gattin Sophie in Sarajewo ermordet worden, und das hatte, wie sich Kuni Herzog ein halbes Jahrhundert später gegenüber ihrem Interviewer ausdrückte, zur Folge, »daß der kleinste Fritz plötzlich der Meinung war, es könne nicht mehr so weitergehen wie bisher«.
Frederik Braak schrieb die Bänder ab und schickte einen Durchschlag an Kuni Herzog, damit sie das Interview autorisiere. Kuni Herzog rief bei Carl an – ich kann mich sehr gut daran erinnern, ich war seit einer Woche in Innsbruck und kam gerade aus meiner neuen Schule in mein neues Zuhause in die Anichstraße, wo wegen des Telefonats höchste Aufregung herrschte –, und Carl fuhr noch am gleichen Tag nach Göttingen. Er ließ die hundertfünfzig Seiten in einem Schreibbüro abtippen und bat seine Tante, von der Kongregation Kopien der Bänder zu fordern, und setzte auch einen entsprechenden Brief an Pater Braak auf. Antwort kam nie. Die Bänder werden wohl in einem Archiv in Rom liegen. – Eine Fotokopie der Abschrift des Interviews ist in meinem Besitz, Carl hat sie mir gegeben, verschiedene Stellen hatte er mit Rotstift unterstrichen. Wenn ich im folgenden Kuni Herzog erzählen lasse, gebe ich den Wortlaut des Interviews wieder.
Frederik Braak: »Wie hat Edith Stein reagiert, als sie vom Ausbruch des Krieges erfuhr?«
Kuni Herzog: »Sie hat sich darüber gefreut. Hat sie mir erzählt. Sie sei an dem besagten ersten August mit einer Freundin am Feuerteich spazierengegangen. Es war ein Samstag – das Fräulein Stein behielt solche Kleinigkeiten, ich wußte mein Lebtag lang nicht, was für ein Tag ist. Was ist heute für ein Tag?«
»Dienstag.«
»Und anschließend seien sie durch die Stadt zur Jüdenstraße gegangen, weil sie sich bei dem Zeitungshäuschen dort die Mittagsausgabe der Berliner Zeitung besorgen wollten. Es habe aber bereits kein Exemplar mehr gegeben. Zufällig kam der Dr. Reinach mit Gattin des Weges, ebenjener Dr. Reinach, der uns beide später zusammenbrachte, und der hatte ein Exemplar der Berliner Zeitung , und nun konnte sie es lesen. Zur Feier des Tages habe sie sich eine Tüte Kirschen gekauft, und die hätten sie zu viert weggeputzt. Das Fräulein Stein fragte den Dr. Reinach, ob er nun auch in den Krieg ziehen müsse, und er habe geantwortet: Nicht müssen, dürfen. Nun hat Frau Reinach, ebenfalls zur Feier des Tages, ebenfalls eine Tüte Kirschen gekauft, und die hätten sie ebenfalls weggeputzt, und Professor Reinach habe gesagt, die Kirschen von Fräulein Stein hätten besser geschmeckt, obwohl er ja wußte, daß beide Tüten beim selben Obststand neben dem Zeitungshäuschen gekauft worden waren. Ich fragte Fräulein Stein, wie denn Frau Reinach darauf reagiert habe. Sie wußte gar nicht, was ich meinte. ›Der ist doch verliebt in Sie‹, sagte ich. Sie ist nicht einmal rot geworden. ›Meinen Sie?‹ hat sie gefragt. ›Hat Frau Reinach Sie zornig angesehen?‹ fragte ich. Sie überlegte. ›Kann sein‹, sagte sie, ›und was hätte das zu bedeuten?‹ ›Daß sie eifersüchtig ist‹, sagte ich. Und sie: ›Aber warum denn?‹ Sie spielte mir nichts vor. Fragte: ›Warum denn eifersüchtig?‹ ›Ja‹, sagte ich, ›schauen Sie doch einmal Ihre hübsche Larve in einem Spiegel an!‹ Sie dachte wieder eine Weile nach und sagte: ›Kann sein, kann aber auch nicht sein.‹
Als wir uns kennenlernten, war der Krieg bereits einen Monat alt, und so eine wie ich fragt: ›Wer geht denn gegen wen?‹ Sie lachte laut und lang, verschränkte die Arme vor ihrem Bauch und beugte sich vor, wie es Schulmädchen tun, und ich dachte: Was für ein fröhlicher Mensch! Sie wußte alles, bis in die Einzelheiten hinein, hat mir Schlachtpläne erläutert, militärische Rangordnungen erklärt und auch, warum Deutschland unbedingt Rußland den Krieg erklären, in Belgien einmarschieren und Frankreich angreifen muß, wenn der österreichische Thronfolger von einem Serben ermordet wird, und hat noch alles mögliche gefaselt von innerer Reinigung und vom Freiglühen eines unzerstörbaren
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