Abendstern - Roman
gewartet.«
»Du musst wissen, dass ich …«
»Sei still, sag mir jetzt bloß nicht, dass ich dir viel bedeute.« Eine Spur von Ärger klang in ihrer Stimme mit. »Du neigst instinktiv zu all den Klischees, die Leute in solchen Fällen so von sich geben. Aber mich machen sie nur wütend.«
»Okay, dann lass mich dir nur eine Frage stellen, ohne dass du gleich wütend wirst. Hast du schon einmal überlegt, dass deine Gefühle vielleicht aus den Ereignissen auf der Lichtung resultieren? Dass sie, sagen
wir mal, eine Reflektion dessen sind, was Ann für Dent empfand?«
»Ja, das habe ich mir überlegt, aber das ist es nicht.« Sie stand auf und zog ihren Pullover an. »Bei ihr war es auch schmerzlich und herzzerreißend, unter der Freude lag Trauer. Aber das ist bei uns nicht so, Cal. Es tut nicht weh, ich fühle mich nicht traurig. Also … hast du jetzt Zeit, mit uns etwas zu essen, bevor ich mit Cyb und Layla wieder gehe?«
»Äh … klar.«
»Gut. Dann treffen wir uns unten. Ich gehe nur noch schnell in den Waschraum, um mich ein bisschen frisch zu machen.«
»Quinn.« Sie blieb an der Tür stehen und drehte sich um. »So wie für dich habe ich noch für niemanden empfunden.«
Sie lächelte ihn an. Er meinte es genauso, wie er es sagte. So war er eben. Der arme Junge, dachte sie, als sie ging. Er weiß noch nicht einmal, dass er am Haken hängt.
An der Nordseite war der Friedhof von dicken Bäumen umgeben. Der Boden dort war aufgeworfen und wellig, und der Weg zwischen den Grabsteinen war kaum breit genug für zwei Autos. Auf einer verblichenen Hinweistafel stand, dass auf diesem Grund einst die erste Kirche der Puritaner gestanden hatte, sie sei aber am 7. Juli 1652 vom Blitz getroffen worden und verbrannt.
Quinn hatte davon gelesen, aber es war etwas anderes, hier im Wind und in der Kälte zu stehen und es sich vorzustellen. Sie hatte auch gelesen, dass an dieser Stelle
eine kleine Kapelle gebaut worden war, die dann im Bürgerkrieg beschädigt worden und verfallen war.
Jetzt gab es hier nur noch die Hinweistafeln, die Grabsteine und winterhartes Unkraut. Hinter einer niedrigen Steinmauer lagen die Gräber der kürzlich Verstorbenen. Hier und dort sah sie frische Blumen, die das Grau und Braun mit ihren Farben durchbrachen.
»Wir hätten auch Blumen mitbringen sollen«, sagte Layla leise und blickte auf den einfachen kleinen Stein, auf dem lediglich stand:
ANN HAWKINS
»Sie braucht sie nicht«, erwiderte Cybil. »Grabsteine und Blumen sind für die Lebenden. Die Toten haben anderes zu tun.«
»Was für ein heiterer Gedanke.«
Cybil zuckte mit den Schultern und sagte zu Quinn: »Ich bin davon überzeugt. Es ist auf keinen Fall langweilig, wenn man tot ist. Findest du es nicht auch interessant, dass weder Geburts- noch Sterbedatum auf dem Stein steht? Sie hatte drei Söhne, aber sie haben nur ihren Namen eingravieren lassen. Sie und ihre Frauen und wenigstens einige ihrer Kinder werden wohl auch hier beerdigt sein. Wohin auch immer das Leben sie verschlagen hat, sie kamen zurück, um bei Ann beerdigt zu werden.«
»Vielleicht wussten sie ja, dass sie zurückkommen würde. Vielleicht hat sie ihnen gesagt, dass der Tod nicht das Ende ist.« Quinn betrachtete stirnrunzelnd den Stein. »Vielleicht wollten sie es ja ganz einfach halten,
aber jetzt, wo du es erwähnst, frage ich mich auch, ob es wohl Absicht war. Kein Anfang, kein Ende. Zumindest nicht, bis …«
»Bis zu diesem Juli«, ergänzte Layla. »Noch so ein heiterer Gedanke.«
»Na, dann mache ich mal ein paar Bilder.« Quinn holte ihre Kamera hervor. »Vielleicht könntet ihr ein paar Namen hier aufschreiben. Wir sollten sie überprüfen, um zu sehen, ob sie …«
Sie stolperte, als sie rückwärts ging, um eine Aufnahme zu machen, und fiel hart auf ihr Hinterteil. »Au! Verdammt noch mal! Genau auf den blauen Fleck von heute früh. Na, perfekt!«
Layla beeilte sich, ihr aufzuhelfen, und auch Cybil reichte ihr lachend die Hand.
»Ach, lach nicht!«, grummelte Quinn. »Der Boden ist hier so uneben, und manche von den Grabsteinen kannst du ja kaum sehen.« Sie rieb sich die Hüfte und blickte finster auf den Stein, über den sie gestolpert war. »Ha! Das ist ja komisch. Joseph Black, achtzehnhundertdreiundvierzig gestorben.« Nachdenklich musterte sie die Inschrift. »Er heißt genauso wie ich. Aber Black ist ja auch ein häufiger Nachname. Andererseits bin ich schließlich gerade hier über sein Grab gestolpert.«
»Kann schon sein,
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