Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
Erfahrung wird mir im Alltag zu mehr Bescheidenheit verhelfen, da bin ich sicher. Der Weg hat in mir keine innere Revolution ausgelöst, vielmehr bereits vorhandene Ansätze zu Tage gefördert, die bisher im Verborgenen schlummerten. Ich werde in Zukunft weniger Kompromisse eingehen, keine faulen mehr. Dafür ist das Leben zu schade. Ich werde noch viel verkehrt machen, ganz sicher. Aber dadurch lerne und wachse ich, in jeder Hinsicht. Tja, und damit hat es sich denn auch schon. Ausgestattet mit diesem Rüstzeug sehe ich mich gut gewappnet, wieder ins „normale Leben“, auf den Camino de la Vida zurückzukehren. Wird vielleicht nicht leicht, aber das war der Weg ja auch nicht immer.
Mir ist klar, meine heile Welt endet hier, ich bin nicht vom Idealismus verblendet und werde jetzt denken, dass die Welt ein besserer Platz wird, nur weil ich ein bisschen davon träumen durfte. Im globalen Kampf um Marktanteile, Wohlstand und Macht sowie der Befriedigung eigener Eitelkeiten sind ethisch-moralische Werte nun mal nicht bzw. nur zum Schein gefragt. Zu glauben, der Mensch wäre jemals in der Lage, in friedlicher Koexistenz miteinander zu leben, bleibt eine Illusion für viele weitere Epochen. Das funktioniert ja noch nicht einmal innerhalb geschlossener Kulturkreise. Wie soll das über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg gehen? Gar nicht, weil sich zum Konfliktpotential, hervorgerufen durch unterschiedlichste Ideologien, fehlende Toleranz gesellt. Diese beginnt ja sogar schon im kleinbürgerlichen Miteinander, wenn Lebensentwürfe abseits gesellschaftlicher oder eigener Normen angeprangert werden, offene oder versteckte Ächtung die Folge ist.
In diese Welt gehe ich nun zurück. Gut, dass sie au ch sehr viele schöne Seiten hat und genug Möglichkeiten bietet, trotz aller Widrigkeiten einen Weg zu finden, auf dem sich eigene Vorstellungen verwirklichen lassen. Ich werde es dabei vielen nicht Recht machen können, aber das ist nicht mein Maßstab. Mir will ich es Recht machen - ohne dass anderen dadurch Nachteile und Schäden entstehen. Wenn ich später, in meinen letzten Atemzügen, beim Blick zurück feststellen kann, dass mir das gelungen ist, darf ich glücklich und zufrieden sein. Ob‘s klappt, wird sich zeigen.
Damit war und ist es nun genug mit Resümees und Ausblicken. Zurück zum Geschehen. Die Messe war bereits eine Weile beendet, als ich ein letztes Mal aus der Kathedrale heraustrat. Ich merkte, wie ich diesen Dingen gerade eine besondere Bedeutung zukommen ließ. Alles tue bzw. tat ich heute das letzte Mal auf diesem Weg. Unwahrscheinlich, dass das zukünftige Beschreiten eines Camino für mich je den gleichen Stellenwert haben wird. Dieser wird für immer was Einmaliges bleiben. Nach diesem „geistigen“ Abschluss begab ich mich an Banales, und zwar den Kauf von Souvenirs. Ein paar Pins, eine Fliese mit dem Muschelsymbol, ein T-Shirt mit dem gelben Pfeil und noch ein paar andere Kleinigkeiten landeten in meiner Tüte. Das musste schon sein! Danach durchstreifte ich ein weiteres Mal die Gassen von Santiago und begegnete dabei immer noch mehr oder weniger flüchtigen Bekannten. Wenn ich auf den Straßen in Herscheid unterwegs bin, kenne ich nicht halb so viele Leute. Aber wann bin ich auch schon mal in Herscheid unterwegs?
Für 18 Uhr hatten wir uns vor der Kathedrale verabredet. Wir, das waren außer mir Ela, Henry, Adrian und Bernadette. Ich freute mich riesig, dass sich auch Julia, Jane und Gundi anschlossen. Gemeinsam suchten wir uns zunächst ein Straßencafé, um die letzten Strahlen eines wieder herrlichen Sonnentages abzubekommen. Anschließend war ein standesgemäßes Dinner angesagt. Wir hatten viel Spaß, redeten, lachten, tauschten E-Mail-Adressen, schossen Erinnerungsfotos und tranken den mit Abstand teuersten Wein des ganzen Camino.
Später, ohne Julia, Adrian und Bernadette ließen wir einen perfekten Camino im Café Casino ausklingen, selbstverständlich bei Live-Pianomusik. Erst um 1 Uhr beschlossen wir die Runde, nahmen Abschied. Nur ein paar Schritte waren es bis zu unserem Hostal, die Gasse glänzte im Schein der Laternen, Wehmut und Vorfreude vermischten sich.
Im Zimmer mache ich den Fernseher an, das erste Mal seit ich in Spanien bin. Auf einem Musikkanal singt Nelly Furtado „All Good Things Come To An End“... .
Ich bekomme Gänsehaut, der Kreis schließt sich! Unglaublich!
Tag 90, Santiago – Frankfurt
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