Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
Freund zu reden begann.
»Ich habe für Johann einen Raum im Keller ausgebaut. Es ist wie ein richtiges Kinderzimmer. Gemütlich. Wirklich. Es würde dir gefallen, Marie. Dein Junge hat alles, was er braucht. Frische Luft, genug zu essen, sogar einen Fernseher, ein weiches Bett, Spielsachen und einen Computer.«
»Genug zu essen?«, fragte Marie. Sie hatte nicht alles verstanden. Was war das für ein Raum, von dem der Freund wie von einem Hotelzimmer sprach?
»Aber natürlich. Dreimal am Tag. Nur gesunde Sachen. Er darf sogar Wünsche äußern. Er mag Spaghetti ganz besonders gern, stimmt’s?« Der Freund klang fast ein bisschen stolz darauf, dass er so gut Bescheid wusste.
»Stimmt. Spaghetti mit Tomatensoße.« Das war keine Sensation, jedes Kind mochte Spaghetti mit Tomatensoße.
»Habe ich ihm gestern gemacht. Einen ganzen Topf voll. Für uns beide. Johann hat aber deutlich mehr als die Hälfte davon gegessen.« Er lachte.
Marie hätte gern mitgelacht, aber es gelang ihr nur ein Grunzen.
Der Freund nahm Maries Hand. Sie musste den Schuh loslassen. Er drückte sie. Die Hand des Freundes fühlte sich warm an, warm und weich. »Glaub mir, Marie: Ich sorge dafür, dass es Johann immer gut geht!«
Dass es Johann immer gut geht. Marie schoss ein Gedanke durch den Kopf: Sie sah Johann in seinem Zimmer im Keller kauern. Allein. Und niemand bringt ihm etwas zu essen und zu trinken. »Und was ist, wenn dir etwas passiert?«
Der Freund ließ ihre Hand los: »Mir darf halt nichts passieren. Das sollte auch in deinem Interesse sein.«
Da fiel Marie etwas ein. Sie öffnete ihre Jacke. Sie spürte, dass der Freund sich für einen Moment anspannte. So nah waren sie sich. Sie griff in das Futter. Dort hatte sie es versteckt. Es war so klein, dass ihre Bewacher es nicht bemerkt hatten.
Marie hatte es zusammengedrückt und in eine Tüte eingewickelt. Es hatte so wenig Platz wie möglich einnehmen sollen. Nun packte sie es aus.
Es war ein Stoffbündel, abgegriffen und längst aus den Nähten gegangen. Eine Maus oder ein Hamster, so genau konnte man das nicht mehr sagen. Johann nannte es das »blöde Tier«. Er nahm es jede Nacht mit in sein Bett. Sein Kuscheltier. Zumindest bis vor einem Jahr. Dann hatte er das Interesse an dem Bündel verloren. Marie nahm an, dass er jetzt, in dieser Situation, in dem Kellerzimmer, wo er jede Nacht allein war, froh sein würde, sein »blödes Tier« wieder bei sich zu haben.
Sie hielt es dem Freund hin. »Johann hat es sicher schon vermisst.«
Er zögerte.
»Keine Angst«, sagte Marie. »Da ist nichts versteckt. Kein Sender oder so. Niemand weiß davon. Ehrlich.«
Der Freund nahm das »blöde Tier« an sich. Er tat es fast ehrfurchtsvoll. Er prüfte es nicht. Er hielt es nur in der Hand. Dann steckte er es so vorsichtig, als handle es sich um ein Lebewesen, in seine Jackentasche. »Ich werde es Johann geben.«
»Danke«, sagte Marie. In diesem Moment hätte sie den Freund am liebsten umarmt.
Doch dann rückte sie von ihm ab und fragte: »Woher weiß ich, dass Sie mir die Wahrheit sagen?«
»Dass ich hier bin und mit dir rede, ist das nicht der Beweis dafür?«
Das leuchtete Marie ein. »Was tun Sie mit Johann?« Ihr Herz begann zu hämmern.
Die Frage schien ihn nicht zu überraschen. »Nichts. Ich will ihn nur in meiner Nähe haben. Ich liebe ihn. Fast so wie du ihn liebst, Marie!«
Marie schrie fast: »Fasst du ihn an?«
Der Freund blieb gelassen: »Keine Angst. Ich tue ihm nicht weh. Das könnte ich gar nicht, Marie. Dazu liebe ich ihn zu sehr. Ich kenne ihn schon lange, Marie. Seit er in die Schule geht. Ich habe ihn beobachtet. Ich habe ihn studiert. Ich weiß viel über ihn. Wir reden miteinander. Wir lachen sogar miteinander …«
»Wirklich?« Wie gerne hätte sie das geglaubt.
»Ja. Johann mag die Simpsons . Die schauen wir fast jeden Tag zusammen an.« Er winkelte den Arm an, um auf seine Armbanduhr schauen zu können. Sie war klein, rot, hatte die Form einer Himbeere. Wie ein Fruchtbonbon. Eine Kinderuhr mit Tieren als Stundensymbolen. »Ich muss los. Die Simpsons fangen an.«
Marie entgegnete: »Ja, die Simpsons liebt er.« Doch dann kamen Marie die Tränen. »Gib mir mein Kind zurück!«, flehte sie ihn an. Er war doch ihr Freund, warum tat er das nicht für sie?
Der Freund legte seinen Arm um Maries Schultern. »Nur noch ein paar Tage, lass ihn mir nur noch ein paar Tage! Dann hast du ihn wohlbehalten wieder. Versprochen, Marie!«
Marie machte sich los:
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