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Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)

Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)

Titel: Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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musste stehen bleiben und warten, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten.
    Sie ging langsam weiter, tastete sich auf einem schmalen Pfad vorwärts. Es roch gut: nach feuchter Erde und nach Laub.
    Marie versuchte, sich zu orientieren. Wenn sie sich nicht sehr täuschte, befand sie sich ganz in der Nähe der Stelle, an der der alte Buchenstamm lag. Dort hatte sie den Freund das letzte Mal getroffen.
    Irgendwo schlug eine Glocke, das war der Kirchturm von Bubach. Es war 18 Uhr. Die verabredete Zeit.
    Marie konnte jetzt besser sehen. Sie begann wieder zu laufen. Im Wald, wo der Weg schmal war und man überall über Wurzeln stolpern konnte, war es eher ein leichtes Traben.
    Der Weg wurde breiter, sie kam auf eine Lichtung. Marie blieb stehen. Rechts oder links?
    Marie schaute in den Himmel. Wo stand die Sonne? Sie entschied sich für den breiteren Weg. Nun ging es noch schneller voran. Ihre Augen suchten einen Anhaltspunkt. Das letzte Mal, als sie mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war, war sie von der anderen Seite in das Waldstück gekommen. Oder war sie ganz falsch hier?
    Marie verließ den Weg. Das Unterholz wurde lichter. Den Buchen wichen Kiefern. Unter den Bäumen wuchs weiches Gras. Marie glaubte, sich zu erinnern.
    Dann sah sie den mächtigen Stamm.
    Der Freund saß dort. Es sah so aus, als hätte er seit ihrem letzten Treffen hier auf sie gewartet.
    Marie wurde langsamer. Sie trat jetzt vorsichtig auf.
    Sie hatte gefunden, was sie suchte. Nun musste sie Zeit gewinnen.
    Als sie fast bei ihm war, bemerkte sie, dass etwas anders war. Die Mickey-Mouse-Maske saß schief. Er sah nun wirklich lächerlich aus. Die Hände ruhten in seinem Schoß; er gab sich Mühe, besonnen zu wirken.
    Auch diesmal stand er auf, um sie zu begrüßen.
    »Guten Tag, Marie. Schön, dass du gekommen ist.«
    Jetzt erst sah Marie, dass etwas auf dem Baumstamm lag. Eine graue Tüte. Sie enthielt etwas. Marie konnte ihren Blick nicht von der Tüte wenden. Sie lag so da, als hätte der Freund sie für sie drapiert.
    Marie fielen die Worte des ersten Anrufers ein, des Irren.
    Ich könnte Ihrem Sohn etwas abschneiden. Erst was Kleines, dann was Großes.
    Sie stockte, sie fasste sich an die Brust.
    Der Freund folgte ihrem Blick.
    »Ich habe dir etwas mitgebracht. Ein kleines Präsent.« Er nahm die Tüte und wickelte sie auf.
    Marie hörte auf zu atmen. Ihre Bronchien schmerzten. Die Lunge war ihre Schwachstelle.
    »Es wird dich freuen, Marie«, sagte der Freund. In seinem Ton lag keine Arglist. Er meinte es ehrlich mit ihr.
    Er griff in die Tüte und zog den Inhalt ganz langsam hervor. Wie bei einer Bescherung, fast feierlich.
    Der Schuh. Johanns Schuh. Es war Johanns Schuh.
    Marie war versucht, sich auf den Schuh zu stürzen, ihn dem Freund zu entreißen, ihn an ihr Herz zu drücken. Doch etwas hielt sie zurück.
    Der Freund hielt ihr den Schuh hin. »Nimm! Du weißt, er gehört deinem Kind.«
    »Aber … den braucht er doch.«
    Der Freund lachte. Es war kein böses, sondern ein gütiges Lachen – soweit Marie das trotz der dämpfenden Maske ausmachen konnte. »Ich habe ihm Pantoffel gegeben. Er kann doch nicht die ganze Zeit seine Schuhe tragen. Das sind Straßenschuhe. So etwas schadet den Füßen.«
    »Genau«, entgegnete Marie. Der Freund hatte recht. Wie oft hatte sie Robert gepredigt, im Haus die Schuhe auszuziehen, nicht nur wegen der Dielen, auch weil die Füße litten. Aber ihr Sohn hatte es seinem Vater nachgemacht.
    »Nun nimm schon!«, forderte der Freund sie auf.
    Marie tat es. Sie umfasste den harten Schuh mit beiden Händen. Sie drückte ihn, sie knetete ihn. Sie wollte ihn nie mehr loslassen. Sie umarmte ihr Kind. Es war unfassbar schön. Für einen Augenblick.
    Der Freund setzte sich wieder auf den Baumstamm.
    Er klatschte mit der flachen Rechten auf das Holz. Marie sollte sich neben ihn setzen.
    Warum nicht? Sie hatte keine Angst mehr vor ihm – auch wenn er immer noch die alberne Maske trug. Irgendwie waren sie einander schon ein bisschen vertraut. Wie Menschen, die in einer Notsituation aneinandergekettet waren.
    Marie nahm auf dem Baumstamm Platz. Johanns Schuh ruhte in ihrem Schoß. Es war fast ein harmonisches Bild – sah man von der Mickey-Mouse-Maske ab.
    Sie berührten sich. Der Stoff ihrer Kleidung berührte sich. Marie fand das ganz normal – schließlich war der Freund der Mensch, der sich seit über zwei Wochen um Johann kümmerte. Sie wollte ihn gerade fragen, wie ihr Sohn untergebracht sei, als der

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