Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
war kurz davor, laut zu werden. Aber dann überlegte er es sich noch einmal: Schließlich war sie die Mutter des verschwundenen Jungen. »Kann ich es haben?« Jetzt klang er fast wie Johann, wenn der Marie um etwas anbettelte.
Marie wandte sich ab. »Nein. Es gehört meinem Sohn. Ich möchte es behalten.«
Er folgte ihr. Wenigstens an der Schlafzimmertür musste dieser aufdringliche Kerl doch haltmachen, hoffte Marie. Ihre Hand lag bereits auf der Türklinke.
»Sie haben mit dem Handy telefoniert?«
»Ja, ich habe einen Anruf erhalten. Er war aber nicht von Johann, wenn Sie das meinen.«
Dieser Bäsch war wirklich dreist. Sein Gesicht kam dem ihren sehr nahe. So nahe, wie man es nur in innigen Momenten erträgt. Marie sah seine Augen. Sie waren kalt und gierig. Nicht nach Sex. Sondern nach Erfolg. Er wollte ihn erzwingen. Dafür war ihm jedes Mittel recht.
Marie musste sich vorsehen; Bäsch war ein anderes Kaliber als Fürbringer. Der junge Polizist kannte keine Rücksicht. Er wollte nichts anderes, als seinen Willen durchsetzen.
»Mit wem haben Sie telefoniert?«
»Das geht Sie zwar nichts an, aber ich sage es Ihnen trotzdem: Ein Freund von Johann hat angerufen. Jemand aus der Schule. Kinder sind so – er dachte wirklich, er erreicht Johann und kann etwas in Erfahrung bringen.«
Bäsch glaubte ihr kein Wort, das sah sie sofort.
Marie schlüpfte in ihr Schlafzimmer. Die Tür schlug sie hinter sich zu.
Von nun an belagerten sie Marie. Zumindest empfand Marie es so. Und Robert schien in diese Belagerung seiner Frau einbezogen worden zu sein. Er ließ sie nicht mehr aus den Augen. Nur im Bett hatte sie ihre Ruhe – wenn sie die Schlafzimmertür hinter sich abschloss.
Marie musste sich etwas überlegen.
Sie wusste zwar, was sie von ihr wollten. Aber sie brauchte Raum. Sie musste sich unbeobachtet bewegen können. Wenn der Freund bemerkte, dass sie Marie ständig auf den Fersen waren, würde er sich nicht mehr bei ihr melden. Sie musste Bäsch und Fürbringer loswerden. In Johanns Interesse.
Marie fand es an der Zeit, sich im Büro sehen zu lassen. Zwar hatte sich noch niemand beschwert; ihr Chef hatte sie sogar kurz nach Johanns Verschwinden angerufen und ihr angeboten, der Verpackungsmittelfirma so lange fernzubleiben, wie sie es für richtig hielt. Aber Marie fand es angesichts der permanenten Beobachtung immer anstrengender, sich zu Hause aufzuhalten. Im Büro hatte sie wenigstens vor Robert und der Polizei ihre Ruhe – und Johanns Handy hatte sie sowieso immer in der Tasche. Sie war also für den Freund erreichbar.
Nach der Arbeit fuhr Marie mit dem Rad in den Supermarkt. Diesmal musste sie wirklich einkaufen. Seit Johann weg war, aßen sie zwar nicht mehr regelmäßig, aber es fehlten ein paar unverzichtbare Dinge: frisches Brot, Mineralwasser, Kaffee (noch nie wurde in Maries Küche so oft Kaffee gekocht wie in den Tagen, in denen sie die Polizei im Haus hatten) und etwas Joghurt.
Als sie vor dem Kühlregal stand und routinemäßig nach den Fruchtzwergen griff, die Johann so gern aß, wurde ihr schwindelig. Sie sah ihr Kind, kauernd und vor Kälte zitternd in einer Kiste, irgendwo tief im Erdreich vergraben.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine Verkäuferin.
Dann waren plötzlich zwei junge Männer da, die Marie nicht kannte. Sie nahmen ihr den Einkaufskorb ab und gingen mit ihr zur Kasse. Sie bezahlten sogar für Marie. Marie verstand erst nicht, was vorging. Als sie mit den beiden Männern den Markt verließ und sah, dass sie ihre dunkle Limousine rücksichtslos auf dem Bürgersteig geparkt hatten, wusste sie, dass die beiden zu Fürbringer gehörten.
Sie trank im Stehen einen Schluck aus der Eineinhalbliterflasche »Bergquell«, die sie gerade gekauft hatte. Dann ging es ihr besser. Sie wollte ihre Einkäufe auf dem Fahrrad nach Hause bringen. Die Polizisten aber packten die Sachen in den Wagen. Es gab einen Wortwechsel.
Die Leute blieben stehen und schauten zu, wie sie sich mit den beiden stritt. Sicher dachten sie, Marie werde gerade festgenommen.
Sie setzte sich gegen Fürbringers Männer durch: Marie fuhr ihre Einkäufe auf dem Gepäckträger nach Hause. Die beiden folgten in gebührendem Abstand, wie Marie im Rückspiegel sehen konnte.
Hoffentlich hat der Freund das nicht beobachtet, dachte sie, als sie in die Einfahrt einbog. Aber er musste doch wissen, dass es nicht einfach für sie war, sich der Polizei zu entziehen.
Ihre Bewacher hielten vor dem Haus, blieben im Wagen sitzen
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