Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
fortgeschritten. Er könnte es einrichten, dass die Kleider nach der Arbeit der Spurensicherung zu ihnen gebracht würden.
Aber Marie wollte mit. Sie wollte sehen, wo ihr Kind all die Monate gelegen hatte. Wie der Freund die Leiche Johanns abgelegt hatte. Sie traute es sich zu.
Robert hatte gar nichts gesagt. Er war ihr einfach gefolgt.
Fürbringer blieb stehen. Unter einem Baum hatten sie Scheinwerfer aufgestellt. Weißes Flutlicht erleuchtete einen Kreis von etwa zwanzig Metern.
»Wollen Sie es sich nicht doch noch überlegen?«, fragte Fürbringer leise. »Wir machen Fotos, die wir Ihnen zeigen können.«
Marie drängte ihn zum Weitergehen.
Fürbringer führte sie bis zu dem Baum. Es genügte, dass er den Männern in den weißen Overalls einen Wink gab. Sie hörten mit ihrer Arbeit auf und zogen sich zurück. Fürbringer nickte Marie zu. Sie spürte die Wärme der starken Scheinwerfer.
Robert trat von hinten an sie heran und nahm ihre Hand.
Marie zog sie weg. Sie konnte das jetzt nicht: Hand in Hand mit Robert an Johanns Leiche treten. Sie war seit Monaten allein, sie wollte ihr Kind auch jetzt allein wiedersehen.
Fürbringer machte Platz. Marie trat näher.
Man musste bei jedem Schritt aufpassen, dass man sich nicht im Unterholz verhedderte und hinschlug.
Sie hatten das Gestrüpp so weit entfernt, dass es aussah, als wäre das Bündel wie ein Meteorit eingeschlagen. Aus unermesslicher Höhe.
Der Körper war zusammengekauert. Ihm ist kalt gewesen, dachte Marie.
Fürbringer stand neben Marie. Er erriet ihre Gedanken. »Es ist nicht hier geschehen. Hier wurde nur die Leiche abgelegt. Das glauben wir schon zu wissen.« Er sprach leise, fast flüsterte er. Wie in der Kirche, während eines Gottesdienstes.
Marie bückte sich, um besser sehen zu können. Auf die Kleider achtete sie gar nicht. Sie wollte das Gesicht ihres Kindes sehen. Doch es gab nichts zu sehen. Nur Haare. Ganze Büschel von Haaren. Marie hatte irgendwo gehört, dass Haare und Nägel nach dem Tod noch so lange weiterwuchsen, wie sie Nährstoffe aus dem Körper bekamen.
Marie suchte die Hände. Sie waren gegen den Bauch gepresst. Man sah nur die Linke. Es waren dünne Knochen, wie von einem Embryo. Die Knöchel waren so winzig, dass man fürchten musste, sie könnten bei der geringsten Belastung brechen.
Mehr gab es nicht zu sehen.
Er hatte Johann irgendwo getötet. In dem Verlies, das sie gefunden hatten. Oder im Auto. Für einen erwachsenen Mann war es so leicht, einen Elfjährigen zu töten. Das wusste Marie mittlerweile gut. Sie hatte alle Möglichkeiten in Gedanken tausendmal durchgespielt.
Sie hätte das, was von Johann übrig war, gern angefasst. Aber sie fürchtete, sobald sie seine sterblichen Überreste berührte, würden diese zerfallen. Zu Staub, wie es in der Bibel hieß.
Marie begnügte sich damit, mit ihren Fingerspitzen den wetterfesten Stoff des Anoraks zu berühren.
Sie spürte nichts. Johann war längst irgendwo anders. Das, was hier lag, war nur seine Spur. Eine Spur, die bald verwischt sein würde.
Wenn sie zu Johann wollte, musste sie ihn anderswo suchen. Vielleicht war er im Himmel.
Es gab nur noch eine Verbindung zu Johann auf Erden: der Freund. Der Mann, der ihn getötet und hier abgelegt hatte. Unter dem Gestrüpp, das so dicht war, dass es weit über ein Jahr gedauert hatte, bis man ihn gefunden hatte.
Marie erhob sich. Sie schaute Fürbringer in die Augen. »Das sind die Kleider meines Sohnes«, sagte sie fest. Dann wandte sie sich zu Robert um, der immer noch etwa zwei Meter hinter ihr stand. »Oder?«
Marie tat das nur, weil sie ihn nicht abseits stehen lassen wollte. Er sah sich ebenso wie sie seinem toten Kind gegenüber.
Sein Gesicht war weiß. Weiß wie der Tod. Das Blut war aus seinem Kopf gewichen. Robert nickte.
»Danke«, sagte Fürbringer. Er klang nicht erleichtert. Er klang so, als würde jetzt alles noch schwerer für ihn werden. Dann leise: »Mein Beileid.«
Bäsch trat heran. Er wollte etwas sagen, aber Marie ließ ihn einfach stehen.
Nun war endlich alles klar. Marie konnte trauern.
12
Marie legte sich ins Bett und weinte. Sie weinte nicht mehr aus Verzweiflung. Sie weinte nicht mehr, weil sie das Warten nicht länger ertrug. Sie weinte aus vollem Herzen. Sie weinte um ihr Kind, das tot war. Und sie weinte um sich. Sie war jetzt eine Mutter, die ihr einziges Kind verloren hatte. Sie tat sich leid. Marie fand, dass ihr das zustand.
Sie hatte nur noch vor etwas wirklich Angst:
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