Abgang ist allerwärts
Augen tränen ließ.
Leicht schwankend ging ich in Richtung meines Hauses, dessen Weiß mir trotz der Dämmerung von weitem entgegen leuchtete. Ich wusste nicht, ob es am Schnaps lag, aber ich spürte in der Bauchgegend trotz der frostigen Luft ein angenehmes Gefühl von Wärme.
XXVIII.
N ach diesem letzten Abend in der Kneipe überschlugen sich die Ereignisse. Edda kam sechs Tage später zum Haus geradelt. Ein gewisser Joachim hätte aus Berlin angerufen, ich wüsste schon Bescheid. Sie sah mich fragend und etwas besorgt an. Ich dankte ihr und sagte, es sei alles in Ordnung. Edda entschuldigte sich, die Post müsse ausgetragen werden, und drehte sich – die sonst so gern und lange mit mir redete – auf dem Absatz um. Sie ließ mir nicht einmal mehr die Zeit Joachim zurückzurufen. Kurz darauf sah ich, wie sie sich, kräftig in die Pedale tretend, auf der Dorfstraße entfernte, die Enden ihres langen Wollschals flatterten heftig im Gegenwind. Es gab also Neues, sonst hätte Joachim nicht hier im Dorf angerufen. Ich packte ein paar Sachen und fuhr mit dem Auto in Richtung Berlin, dabei ständig die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreitend, als fürchtete ich, zu einem wichtigen Termin zu spät zu kommen.
In meiner kleinen Berliner Wohnung angekommen, wählte ich sofort Joachims Nummer. Es ertönte das Besetztzeichen, was meine Nervosität noch verstärkte. Ich versuchte es wieder und wieder, es war oft nicht leicht, eine Verbindung zum anderen Deutschland zu bekommen, die überwachten Telefonleitungen waren fast immer belegt.
Es war ein Geduldsspiel, das sich quälend lang hinziehen konnte. Endlich kam ich durch. Joachim war sofort am Telefon, als hätte er meinen Anruf erwartet. Er fasste sich kurz und sagte nur: »Ruf Wiesheim an und toi, toi, toi!«, dann legte er auf. Ich hatte Wiesheims Nummer nicht, also suchte ich hastig im Telefonbuch, hoffend, dass er dort zu finden sei. Erleichtert entdeckte ich Wiesheims Namen und die Telefonnummer. Ich setzte mich auf das kleine gestreifte Sofa und holte tief Luft. Was sollte ich Wiesheim sagen und würde er überhaupt zu Hause sein? Langsam wählte ich seine Nummer. Eine dunkle, sympathische Stimme meldete sich. Es war Wiesheim. Ich nannte etwas unsicher meinen Namen. Wiesheim sagte nur: »Ich weiß Bescheid, kommen Sie sofort zu mir. Ich wohne…« Er nannte mir seine Adresse, dann legte er auf. Ich hastete die Treppen hinunter – der Fahrstuhl war wieder einmal außer Betrieb –, sprang ins Auto und fuhr wie getrieben, aber durch die Ampeln gezwungen, mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten, zu der angegebenen Adresse. Das Gespräch mit Wiesheim dauerte weit über eine Stunde. Ich erfuhr einiges über den weißhaarigen Mann, was ich vorher nicht gewusst hatte, und auch nicht hatte wissen wollen, vor allem über dessen Emigrationszeit in der Schweiz, über der lange das Damoklesschwert der Auslieferung an das Deutsche Reich und damit an die Gestapo gehangen hatte. Diese Angst zurückgeschickt zu werden, musste ich nicht haben, ich fürchtete eher, bis zum Sankt Nimmerleinstag hier festgehalten zu werden, also erzählte ich Wiesheim von mir und meinen Gründen das Land verlassen zu wollen. Im Wesentlichen zählte ich all das auf, das ich schon in dem Begründungsbrief an das Ministerium benannt hatte.
Wiesheim hörte mir mit leicht gefalteten Händen aufmerksam zu. Es stellte sich rasch eine Vertrautheit zwischen uns her, die ich bei einem ersten Gespräch nie erwartet hätte.
Am Schluss unserer Unterhaltung sagte Wiesheim nur: «Ich will sehen, ob ich Ihnen helfen kann. Ich werde einen Brief an den Generalsekretär schreiben und um Klärung Ihres Problems bitten.« Er machte eine Pause und sah mir lange ins Gesicht. Endlich fuhr er fort: »Es ist schade, dass wir uns erst jetzt und unter diesen Umständen kennen gelernt haben, wirklich schade.« Dann veränderte sich plötzlich seine Haltung und er fügte hinzu: »Ich hoffe nur, dass Sie mich im Westen nicht mit Schmutz bewerfen, wie andere, die mich ebenfalls um Hilfe gebeten haben.«
Ich sah ihn erstaunt an und schüttelte dann irritiert den Kopf. Wie konnte Wiesheim annehmen, dass ich ihn im Westen denunzieren würde? Auch wenn mich die Situation an Feudalverhältnisse erinnerte: Der Freund des Fürsten bittet um die Freilassung eines Verfemten und der Herrschende gewährt sie durch einen Federstrich. Wiesheim gab mir die Hand und sagte abschließend: »In etwa zehn Tagen müssten Sie Bescheid
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