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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Kuhnert
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nicht vorgestellt hatte. Breihahn hatte von ihm herrisch die Herausgabe der Büttenrede gefordert. Der Text war sofort dem unbekannten Mann in der Lederjacke übergeben worden.
    Dann hatte Breihahn in scharfem Ton erklärt, dass da gestern Behauptungen aufgestellt worden wären, die eine öffentliche Herabwürdigung und Verleumdung von führenden Genossen darstellten. Er rate ihm deshalb dringend, heute Abend zu Hause zu bleiben, eine Wiederholung seines Auftritts müsste sonst als vorsätzliche Straftat betrachtet werden.
    Kanzog hatte sich wie vor den Kopf gestoßen gefühlt und hatte versucht vorsichtig einzuwenden, es sei doch Karneval, Narrenfreiheit, und der Bürgermeister habe die Reden doch selbst vorgeschlagen. Breihahn hatte ihn darauf angebrüllt, dass sich die Genossen nicht gern zum Narren halten ließen, schon gar nicht durch feindliche Äußerungen in der Öffentlichkeit. Deshalb würden sie über Konsequenzen nachdenken. Dann hatte sich der Mann in der Lederjacke eingemischt und ihn gefragt, ob er glaube, mit dieser Haltung die Kinder des Ortes sozialistisch erziehen zu können. Kanzog hatte es für klüger gehalten zu schweigen.
    »War diese Provokation Ihre oder Schliemanns Idee? Denn offensichtlich haben Sie sich ja mit ihm abgesprochen«, hatte der Unbekannte dann weiter gefragt. Und Kanzog hatte erwidert, dass das Ganze offenbar ein Missverständnis sei.
    »Was meinen Sie wie oft wir diesen Satz hören?«, war die Antwort des Lederjackenmanns gewesen und dann hätte der plötzlich den Tonfall gewechselt und Kanzog gefragt, wie gut er eigentlich Bernd Bendig kennen würde. Das war eine ganz miese Fangfrage, Elias, denn im Ort weiß jeder, dass die beiden befreundet sind, erklärte mir Gisbert. Also musste ja jetzt das kommen, was zu erwarten war: Ob Kanzog nicht wüsste, dass Bendig homosexuell sei, und dass sich die Schulbehörde Gedanken machen müsste, ob ein Lehrer in so einem kleinen Ort, der auch minderjährige Jungen unterrichtet, und mit einem Homosexuellen verkehrt, noch tragbar wäre.«
    »Ich habe eine Frau und eine Tochter!« hatte Kanzog empört erwidert.
    »Das hieße gar nichts, denn Leute, die sich so laut verteidigten, hätten meist etwas zu verbergen.«
    Das kurze Gespräch sei dann von dem Lederjackenmann mit der Bemerkung beendet worden: Es läge an Kanzog und seiner Bereitschaft zu kooperieren, ob die Geschichte noch ein Nachspiel haben würde. Und über dieses Gespräch habe er im eigenen Interesse Stillschweigen zu bewahren, gegenüber jedermann, auch gegenüber seiner Frau. Kanzog hatte beim Verlassen des Amtes auf dem Gang auch Schliemann sitzen sehen. Er sei aber fluchtartig auf die Straße gelaufen, wo er sich nach einem Schwächeanfall kaum noch auf den Beinen halten konnte. Deshalb war er sofort danach zu Gisbert in die Sprechstunde gekommen.
    »Ich habe ihm ein Sedativum gespritzt und einen Krankenschein ausgeschrieben. Jetzt liegt er hoffentlich in seinem Bett. Was mit Schliemann los ist, weiß ich nicht. Und keiner im Saal der Eintracht ahnt was. Sie feiern gerade den zweiten tollen Tag, und heute haben eben alle drei Büttenredner die Grippe. Wen kümmert´s schon. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.«
    Gisbert hatte sich mit leicht zitternder Hand erneut Weinbrand in sein Glas gefüllt, als er mir auch einschenken wollte, lehnte ich ab.
    In meinem Kopf kreisten die Gedanken. Hatte mich die Realität, vor der ich bisher so erfolgreich auf das Dorf geflüchtet war, hier eingeholt? Eines war jetzt unmissverständlich klar: Mein romantisches Fachwerkhaus lag nicht im Niemandsland, auch wenn es fünfzehn Kilometer von diesem kleinen Städtchen hier entfernt war.
XXVII.
    I n der Kneipe von Hohenfeld war der Karneval des Nachbarortes am anderen Tag nur einen Satz wert: »Soll ja ´ne Bombenstimmung jewesen sein!« Sie wussten, dass Breihahn in einer Narrenrede wegen der geklauten Futtersäcke, eins übergebraten bekommen hatte. Joneleit, der den Satz schadenfroh in den Schankraum gekräht hatte, lachte und die anderen stimmten mit ein. Es war deutlich zu spüren, dass der Hauptwachtmeister auch hier im Dorf nicht besonders beliebt war. Ich saß an diesem späten Nachmittag mit Gottfried, Erwin, Joneleit und Enrico an einem Tisch. Viel interessanter als die drei tollen Tage in der Nachbarschaft waren die Neuigkeiten von der deutsch-polnischen Grenze.
    »Hast du schon jehört«, wandte sich Erwin an mich, »jetzt kannst du bloß mit´m Ausweis nach Polen rüber. Ich

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