Abgang ist allerwärts
den heutigen Erlebnissen gut tun. »Da wir uns ja nicht um irgendwelche Ochsenwiesen streiten, bist du jederzeit in meinem Kirschgarten willkommen, solange er noch nicht abgeholzt ist«, nahm ich ihr Blödelangebot an. Sie lachte amüsiert und legte auf. Ich wusste, dass ich irgendetwas tun musste, irgendetwas, das mir das Gefühl gab, nicht weiterhin nur der Ungewissheit und der Willkür anonymer Instanzen ausgesetzt zu sein. Ich wählte Joachims Nummer. Die Sekretärin stellte das Gespräch durch. Ohne lange Vorrede fragte er sofort:
»Gibt es etwas Neues?«
»Josef K. hat noch immer keinen definitiven Bescheid«, antwortete ich. Sollten die, die da mithörten, ruhig ein bisschen grübeln.
»Ich habe mit einem guten Freund auf unserer Seite gesprochen, du kennst ihn, wir haben uns nach der Premiere getroffen. Er hat einen guten Draht zu Wiesheim. Der hat schon einigen geholfen. Wenn da was klappt, melde ich mich. Also, Kopf hoch! Es tut sich was!« Er hatte aufgelegt, noch bevor ich danke sagen konnte. Wiesheim. Ich wusste, dass er von den Oberen des Staates als Schriftsteller sehr geschätzt wurde und deshalb auch Anfeindungen von Seiten einiger Kollegen ausgesetzt war. Während der Zeit des Nationalsozialismus hatte er in der Emigration gelebt. Daher kannte er auch einige, die jetzt in der obersten Etage von Partei und Regierung saßen. Ich war ihm persönlich nur auf dieser unwürdigen Veranstaltung im Roten Rathaus begegnet, wo er der einzige gewesen war, der sich offen gegen den Ausschluss der neun Kollegen gewandt hatte. Und nun sollte er womöglich der Schlüssel zur Lösung meines Problems werden.
Und der gute Freund, von dem Joachim gesprochen hatte, konnte niemand anderer sein als Pierre Dresser. Ich schwankte zwischen Zweifel und Hoffnung. Ein Zustand, mit dem ich nun schon seit Monaten Tag für Tag lebte, nur überwog diesmal die Hoffnung. Mit innerer Ruhe und Gelassenheit steuerte ich meinem tausend Werst entfernten Landgut entgegen.
Da ich das Dorf nur für einen Tag verlassen hatte, würde das Haus bei meiner Rückkehr noch leidlich warm sein.
Zwei Stunden später hatte ich den inzwischen leuchtend weißen Fachwerkbau am Ende des Dorfes erreicht. Rudi winkte mir aus seinem Wohnzimmerfenster zu. »Der Doktor hat nach dir gefragt. Du sollst bei ihm vorbeikommen«, rief er mir zu. Es begann bereits zu dämmern, dennoch wendete ich mein Auto und fuhr sofort in den Ort des Karnevals. Ein Besuch bei Gisbert würde sicher eine willkommene Abwechslung sein. An diesem frühdunklen Winterabend wirkte das kleine Nachbarstädtchen wie ausgestorben. Nur aus dem Gasthaus Eintracht drang laute Musik. Der zweite tolle Tag hatte also bereits begonnen. Vielleicht würde ich Gisbert gar nicht zu Hause antreffen. Ich bog in die Straße am See ein, die Fenster von Gisberts Haus waren hell erleuchtet. Auf mein Klopfen öffnete mir Hildegard. Sie umarmte mich freudig und wies mit der Hand zum Wohnraum mit den großen Fenstern in Richtung See.
»Gut, dass du gleich kommen konntest, Gisbert ist ziemlich aufgelöst«, flüsterte sie mir zu. Ich sah sie fragend an.
»Er wird dir alles erzählen.«
Ich klopfte kurz an und trat dann ins Zimmer. Gisbert saß auf der Couch, vor sich auf dem flachen Tisch ein Glas mit Weinbrand. Als er mich sah, sprang er auf, griff nach meiner Hand und dirigierte mich zu dem Sessel, der ihm gegenüber stand. Ohne zu fragen, goss er auch für mich ein Glas Schnaps ein und reichte es mir.
»Den wirst du brauchen, wenn du hörst, was ich dir jetzt erzähle«, sagte er, dann ließ er sich auf die Couch fallen. Ich konnte deutlich Gisberts innere Erregung spüren, als er langsam zu sprechen begann.
»Was ich dir jetzt erzähle, muss unter uns bleiben, ich dürfte eigentlich gar nicht darüber sprechen, aber ich denke, dass du – gerade in deiner Situation – ein Recht darauf hast, es zu erfahren. Heute kam Hermann Kanzog zu mir in die Sprechstunde.
Er war total aufgelöst, ich dachte, er würde jeden Moment kollabieren. Er war in Schweiß gebadet und dann brach es aus ihm heraus, er sprach ohne Punkt und Komma.« Und jetzt erzählte mir Gisbert, was er von Kanzog erfahren hatte.
Der Deutschlehrer war am frühen Morgen von Hauptwachtmeister Breihahn auf das Bürgermeisteramt zitiert worden und er hatte seine Büttenrede von gestern Abend mitbringen müssen. Im Büro hatten außer Breihahn, der Referent des Bürgermeisters Feist und ein Mann in einer schwarzen Lederjacke gesessen, der sich
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