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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Kuhnert
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Prag passiert ist. Du kannst dir vorstellen, dass das den Offiziellen hier nicht passte. Also haben sie von der Kreisverwaltung sich was einfallen lassen. Die Bewohner unserer Gegend wurden aufgefordert, wachsam zu sein und illegale Grenzübertritte zu verhindern.
    Für jeden festgenommenen Grenzverletzer gab es eine Anerkennungsprämie von 150 Mark. Na ja, und da haben sie sich eben auf die Lauer gelegt, die lieben Nachbarn, auch einige aus deinem Dorf, die du noch aus der Kneipe kanntest.
    Tango zum Beispiel, du erinnerst dich sicher an ihn, den Hans-Dampf-in-allen-Gassen, der war sowas wie der Anführer.
    Freiwilliger Grenzhelfer, du weißt schon, diese Art Hilfspolizist, war er ja immer schon. Und jetzt brachte ihm das Ehrenamt sogar noch was ein. 150 Mark war ´ne Menge Geld, da konnte er in der Kneipe schon mal die eine oder andere Runde ausgeben und sich als Held feiern lassen. Du fragst dich sicher, woher ich das weiß. Mein Behandlungszimmer ist manchmal sowas wie ein Beichtstuhl, denn einigen war diese Menschenjagd dann doch nicht ganz geheuer.«
    Ich erinnerte mich sehr gut an Tango, der ja eigentlich Enrico hieß. Wie hatte er damals zum Abschied gesagt: »Halt die Ohren steif, Flüchtling und das andere auch, du weißt schon.«
    Er war der immer gutgelaunte Komiker gewesen, über dessen Witze alle in der Kneipe gelacht hatten. Eigentlich hatte ich auch ihn besuchen wollen, und jetzt war ich mir nicht mehr sicher. Konnte ich noch mit jemandem an einem Tisch sitzen und Bier trinken, der vor Jahren für 150 Mark Leute vielleicht ins Gefängnis gebracht hatte, deren einziges Vergehen darin bestanden hatte, das Land heimlich verlassen zu wollen, weil es ihnen offiziell verwehrt worden war?
    »Einer, der von Tangos Trupp gefasst worden war, musste stundenlang mit ausgebreiteten Armen – das Gesicht zur Erde – auf dem Boden liegen, bis die Soldaten der Grenztruppen erschienen und ihn abtransportierten. Das hat mir vor kurzem einer gestanden, den inzwischen der Krebs geholt hat.« Gisbert sah nachdenklich in sein halbvolles Sektglas, dann fuhr er sichtlich bewegt fort: »Es ist manchmal nicht leicht für mich, wenn der eine oder andere von den Prämienjägern zu mir in die Praxis kommt.
    Aber ich bin noch immer der Arzt hier und muss jeden gleich behandeln, da darf es keine Rolle spielen, was ich von ihm weiß.«
    »Aber du hast gesagt, manches könne man nicht so schnell vergessen.« Ich wusste nicht, was in mich gefahren war, aber ich musste Gisbert einfach widersprechen. War es die Enttäuschung, dass mein heiles Bild vom Dorf Hohenfeld und seinen Bewohnern, das ich über all die Jahre sorgsam bewahrt hatte, nun durch diese Erzählung Gefahr lief auseinander zu fallen? Gisbert sah mich an und breitete hilflos die Arme aus.
    »Und was ist mit denen, die sich nicht an der Menschenjagd beteiligt haben?« Ich wollte es jetzt wissen.
    »Sie schweigen alle. Die, die mitgemacht haben und die, die nur zugesehen oder auch weggesehen haben. Es ist nicht mehr wichtig. Heute geht es darum, irgendeine Arbeit zu finden und klar zu kommen mit der neuen Zeit. Das ist sogar für mich auch noch nach Jahren nicht so einfach.«
    Eine Weile sahen wir schweigend durch das Fenster auf die inzwischen spiegelglatte Oberfläche des kleinen Sees. Die Stille gab den letzten Worten ein besonderes Gewicht.
    »Und? Wirst du deinem ehemaligen Haus und dem Dorf nun einen Besuch abstatten, trotz dieser Geschichten? Ich wollte dir nichts kaputtmachen, aber ich denke, du hast ein Recht darauf, davon zu wissen.« Er sah mich gespannt an. »Und was ist, wenn ich dem einen oder anderen von denen begegne?«
    Ich wünschte mir in dem Moment, er würde mir raten, gleich wieder nach Hause zu fahren und das Dorf mit all den Erinnerungen weit hinter mir zu lassen. Gisbert atmete tief ein und aus und zuckte dann die Achseln.
    »Es ist deine Entscheidung. Ich habe dir absichtlich nur den einen Namen genannt. Fahr hin und sieh es dir an. Es ist ein sterbendes Dorf, aber die wenigen, die dort noch leben, werden sich freuen, dich zu sehen. Du hast ja mit dieser Geschichte nichts zu tun und sie wissen nicht, dass du es weißt.«
    Ich zögerte. War ich wirklich überrascht? Und dann erinnerte ich mich. Hatte mir Tango nicht schon damals an einem Sonntagabend in der Kneipe nach einigen Bieren und klaren Schnäpsen laut erklärt: Wenn er an der Staatsgrenze West stehen würde, und er müsste wegen so einem Schwein, das abhauen will, aus seinem warmen Bett und

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