Letzte Beichte
[Menü]
1
Tipps für Bewährungshelfer:
1.
Schmuggeln Sie kein Heroin ins Gefängnis.
2.
Trinken Sie keinen Wodka zum Stressabbau.
3.
Geben Sie nie einem Kollegen einen Zungenkuss, um Ihren Freund eifersüchtig zu machen.
4.
Schnupfen Sie kein Speed.
5.
Verbringen Sie niemals mehr Zeit mit Mördern als mit Ihrem Sohn.
6.
Laden Sie keine cracksüchtigen Klienten zu Ihrer Party ein.
Hätte man die Sache etwas besser vorbereitet, wäre der Tag meiner Hochzeit vielleicht der schönste Tag meines Lebens geworden. In meinem hautengen Nixenkleid mit dem blumenbestickten Oberteil hätte ich alle überstrahlt. Der kleine Robbie wäre in seinem Schottenrock samt Mini-Felltasche und Riesenlächeln vor mir herstolziert.
Mit seiner Fünfziger-Jahre-Haartolle hätte er ausgesehen wie ein Aufziehmännchen – in seiner Hemdtasche hätte ein batteriebetriebener Motor gesurrt. Er hätte unsere Freunde und Familienmitglieder mit Rosenblütenblättern beworfen und vielleicht sehr laut »Scheiße« gerufen, so wie ich es ihm versehentlich beigebracht hatte. Und Chas hätte den Schleier vor meinem Gesicht gelüftet, mich geküsst und zur glücklichsten aller Bräute gemacht.
Ich hätte zugesehen, wie Chas mit feuchten Augen einen Toast auf uns ausgebracht und eine Rede gehalten hätte. Stattdessen drückte mich jemand auf den Boden, und ich schlug imDunkeln blindlings um mich, als wäre ich Clarice Starling in Das Schweigen der Lämmer.
Ich hätte mit Chas Walzer getanzt. Stattdessen musste ich zusehen, wie er aus dem Leben glitt, während ich schrie, jemand solle bitte einen Krankenwagen rufen … bitte …
Ich hätte Champagner geschlürft. Stattdessen schluchzte ich voller Schreck und Entsetzen.
Es war alles meine Schuld. Weil ich mich in den ersten Monaten in meinem neuen Job so dämlich angestellt und all die Sachen gemacht hatte, die ein Bewährungshelfer niemals machen sollte.
In den zwei Jahren, ehe ich Bewährungshelferin geworden war, hatte sich vieles in meinem Leben geändert. Ich hatte zu arbeiten aufgehört, um mich ganz meinem kleinen Robbie zu widmen. Ich war dabei gewesen, als er gelernt hatte, erst zu krabbeln, dann zu gehen, dann zu sprechen, dann meinen Freund Chas zu Boden zu werfen, bis die beiden vor Lachen nicht mehr konnten. Ich war Hals über Kopf in das Reich der Liebenden eingetaucht.
Jeden Morgen genehmigte ich mir eine Tasse Kaffee im Bett, während Chas neben mir noch einmal einschlief. Ich genoss unsere gemeinsamen Schaufensterbummel, wenn wir zu zweit den Kinderwagen schoben und an mäßig edlen Geschäften vorbeigingen. Ich wechselte mich mit Chas beim Anschubsen der Schaukel im Park ab, formte im Bad lustige Figuren aus Badeschaum, las Robbie Geschichten vor und lag neben ihm, wenn er einschlief.
Und Chas und ich berührten uns. Wir konnten überhaupt nicht mehr damit aufhören, uns zu berühren. Ich bekam einfach nicht genug von dem Menschen, den ich so viele Jahre auf Abstand gehalten hatte.
Anfangs lebten wir von der Unterstützung meiner Eltern. Als ich eines sonnigen Septembertages Hilfe gebraucht hatte, hatten sie alles Nötige aus meiner Wohnung in ihr Haus geschafft und mich so lange unter ihre Fittiche genommen, bisich wieder auf die Beine gekommen war. Sie verordneten mir einen festen Tagesablauf, vernünftige Ernährung, Fitnesstraining und frische Luft. Sie hielten mich vom Trinken, von Unbesonnenheiten, Selbsthass und Vorwürfen ab. Mein Tagesablauf verschmolz mit dem von Robbie. Nach langem, ruhigem Nachtschlaf löffelte ich brav den Teller leer, den sie mir vorsetzten. Vormittags unternahm ich gemächliche Spaziergänge im Park. Mittags schlürfte ich ihre hausgemachten Suppen, nachmittags legte ich mich zu einem Nickerchen hin, abends brach ich zu einem zweiten Spaziergang auf. Ich aß ein ausgewogenes Abendessen, nahm ein Bad und ging ins Bett. Zuerst langweilte ich mich zu Tode. Kein Alkohol, keine Partys, Freunde, Kollegen, Sorgen, kein Tratsch. Nichts als die beruhigende Anwesenheit von Chas und meinen Eltern. Aber schon nach kurzer Zeit begann ich das, was ich früher Langeweile genannt hatte, neu zu definieren: Ich nannte es jetzt Entspannung und Gesundheit. Und mir wurde klar, dass all dies mich allmählich in ein glückliches und erfülltes Leben führte.
Anfangs kam Chas nur auf Besuch vorbei, dann blieb er gelegentlich über Nacht. Einige Jahre zuvor war er aus dem Gefängnis entlassen worden. Man hatte ihn verknackt, weil er einen Pädophilen angegriffen hatte, der
Weitere Kostenlose Bücher