Abgebrezelt
15 Jahren in einer feuchten Kellerecke liegendes Sitzkissen ist es ziemlich eng auf dem Arbeitsmarkt. Aber wer weiß, vielleicht höre ich demnächst ja auch noch mit dem Zähneputzen auf? Und schließlich traue ich mich nicht nur nicht mehr zu arbeiten, ich traue mich noch nicht mal mehr aus dem Haus. Mein Handy unter dem Kissen meldet dumpf eine weitere SMS. Es dauert einige Zeit, bis ich mich entschließen kann, sie zu lesen. Diesmal ist sie nicht von Vodafone, sondern von Jens:
Hy, Jessi, hast du meine Blumen nicht bekommen? Muss langsam anfangen mit der Wohnungssuche. Meld dich doch mal bei mir! Jens
Ich schiebe das Handy wieder unter das Sitzkissen, tue so, als hätte ich die SMS nicht gelesen, und besuche Richterin Barbara Salesch in ihrem Gerichtssaal. Dazu esse ich heute eine Tafel Schokolade, die ich letztes Weihnachten geschenkt bekommen und im Küchenschrank vergessen habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich jemals eine ganze Tafel Schokolade gegessen habe. Ich habe mir wenn immer nur ein kleines Stückchen gegönnt, nur ein Viertel einer Schokoladenrippe, und hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen. Die Schokolade ist zwar abgelaufen, aber ich schaffe es trotzdem, sie mir innerhalb von fünf Minuten gierig und fast vollständig in den Mund zu schieben und sie ohne zu kauen runterzuschlucken. Mich würde interessieren, was der Kilocoach dazu sagen würde, vielleicht ›Kilocoach meint: Herzlichen Glückwunsch! Sie kommen Ihrem Ziel »Bratarsch« sehr schnell näher!‹
Heute geht es bei Richterin Salesch um eine Frau, die ihren Ex umgebracht hat, weil der sie absichtlich verstümmelt hat, und das nur, weil sie ihn betrogen und verlassen hat. Er hat ihr K.-o.-Tropfen in ein Glas Wein geträufelt und ihr dann ziemlich schlecht und zittrig seinen Namen auf die Wange tätowiert. Der Mann war Buchhalter von Beruf, hatte keinerlei künstlerische Talente und hieß auch noch Christopher. Das passt natürlich auf keine Wange, noch nicht mal auf die von Frau Akel, weshalb der zweite Teil von Christopher, also das … opher nicht mehr auf der Wange, sondern auf dem Hals der armen Angeklagten steht. Hätte sie sich mal lieber einen Urs zum Freund genommen. Auf jeden Fall hat sie Christopher dann umgebracht, was ich sehr gut nachvollziehen kann.
In dem Moment, in dem ich das denke, fällt mir was auf: Zwischen der Geschichte dieser Frau, mit dem Christopher auf der Backe und mir gibt es ein paar nicht ganz unwesentliche Parallelen. Erstens: Ich bin auch verstümmelt worden, zweitens: Es war ebenfalls mein Ex, drittens hab ich ihn auch betrogen – auch wenn es schon länger her ist –, und viertens würde ich ihn liebend gerne umbringen. Ich komme ernsthaft ins Grübeln. Könnte es vielleicht sein, dass Roland das mit Absicht gemacht hat? War das vielleicht die späte Rache für Jens? Kann es sein, dass Roland mir absichtlich erst die Spritze in den falschen Muskel gespritzt und dann ein Mittel verabreicht hat, das diesen widerlichen Ausschlag hervorruft? Eine bessere Gelegenheit konnte ich ihm eigentlich nicht bieten, einfacher kann man es einem gehörnten Ex-Lover nun wirklich nicht machen. Ich bin so eine blöde Kuh, dass mir das nicht schon vorher in den Sinn gekommen ist. Wie naiv kann man denn sein? Mein Herz rast, und meine linke Hand fängt an unkontrolliert zu zittern, ich muss sie mit der rechten Hand festhalten. Ich atme ein paarmal tief ein und aus, um nicht zu hyperventilieren, und stopfe mir das letzte Stück Schokolade in den Mund. Als ich mich ein wenig beruhigt habe, greife ich zum Hörer und rufe Roland an. Es dauert einige Zeit, bis er an sein Handy geht.
»Hallo, Jessi. Wie geht es dir? Gibt’s Probleme?«, fragt er.
»Was würde dir denn mehr gefallen? Dass es mir gutgeht oder dass es Probleme gibt?«, frage ich sehr ruhig, während meine Hand den Telefonhörer so festhält, dass die Knöchel kalkweiß hervortreten.
»Wie meinst du das? Natürlich, dass es dir gutgeht. Was ist denn das für eine Frage?«
Meine Handflächen fangen stark an zu schwitzen, und weil ich den Hörer so fest umklammere, flutscht er mir in diesem Moment aus den Fingern und kracht auf den Parkettboden. Ich renne dem Hörer hinterher, der über den glatten Boden schlittert und unter ein Regal rutscht.
»Jessica?«
»Jaaa, Moment!!
Ich fische nach dem Telefon, erwische es auch direkt und ziehe es mit zahlreichen Wollmäusen unter dem Regal hervor. Die Wollmäuse kleben an Schokoladenresten am
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