Abgebrezelt
Zentimeter über dem Unterlid, wie ich mit meinem Oberschenkelmaßband nachmessen konnte. Was die Lippe angeht, kann ich auch hier keine Verbesserung feststellen. Ich habe angefangen, täglich ein Foto von meinem Mund zu machen – immer aus exakt derselben Entfernung aufgenommen –, die ich dann ausdrucke und hintereinanderhefte – eine Art Daumenkino des Grauens. So kann ich aber genau sehen, ob sich was verändert hat oder eben nicht. Bis jetzt hat sich nichts verändert, und es handelt sich um das langweiligste Daumenkino, das ich je durch meine Finger hab gleiten lassen. Was den Ausschlag angeht, kann ich auch mit bloßem Auge sehen, dass er sich von meiner Wange immer mehr in Richtung Hals bewegt, was ja an sich ganz gut wäre, wenn er nicht eine Schneise der Verwüstung hinterlassen würde, die aus roten Flecken mit braunem Schorf besteht.
Bevorzugt schaue ich mir Reality Shows an, am liebsten die, in denen es um Menschen geht, denen es noch schlechter geht als mir. Ich beginne den Tag um 09:30 Uhr mit der Familienhilfe mit Herz auf RTL. Hier kümmert sich die dicke Diplom-Psychologin Susan Akel um Familien, die ihre Probleme alleine nicht mehr in den Griff bekommen. Heute hilft sie einer jungen Frau, die ihre leibliche Mutter sucht und auch findet. Leider interessiert das die Mutter überhaupt nicht, da diese mittlerweile sechs weitere Kinder von vier unterschiedlichen Vätern in die Welt gesetzt hat, mit denen sie auch nicht klar kommt. Eine weitere Tochter kann sie ganz offensichtlich nicht gebrauchen.
Danach schalte ich um auf RTL 2 zu Zuhause im Glück . Auch hier wird geholfen. Meistens handelt es sich um mittellose Familien, die kranke oder behinderte Kinder haben und deren Häuser so langsam, aber sicher in sich zusammenfallen. RTL 2 hilft hier ganz selbstlos, renoviert das Haus und stiftet neue Möbel, da die Familien oft nicht mal mehr ein vernünftiges Bett oder eine Couch haben. Zum Schluss sind alle immer unheimlich gerührt und glücklich. Ich auch, aber nur kurz. Nach der ganzen Gefühlsduselei schaue ich dann noch bei Richter Alexander Hold vorbei und frage mich eine Stunde lang, warum die Privaten kein Geld mehr haben, um sich Schauspieler einzukaufen und stattdessen irgendwelche talentfreien Hilfsschüler als Täter und Opfer einsetzen. Bei Britt dagegen ist alles echt, 100 % echte Vollasis, die ihre Chips- und Bierärsche in die Studiocouch drücken. Heute geht es um das Thema »Einsam – keiner kümmert sich um mich«, und wenn man die Gestalten da so sieht, wundert einen das überhaupt nicht, dass die keiner anruft, noch nicht mal für Geld. In diesem Moment meldet mein Handy eine SMS. Nach der langen nachrichtenfreien Zeit erschrecke ich mich ein bisschen über den Signalton, grabsche dann aber gierig nach dem Telefon, das rund um die Uhr griffbereit neben mir liegt. Vielleicht ist es ja Julia, die sich endlich um mich kümmert!
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Ich lege mein Handy zur Seite und packe eines der dicken Sitzkissen darauf, danach rege ich mich über Britts neue Frisur auf, die mich an einen durch den Rhein gezogenen Flokati erinnert. Allerdings muss ich zugeben, dass mein Haupthaar wahrscheinlich auch nicht viel besser aussieht, da ich es seit vier Tagen weder gewaschen noch gekämmt habe. Die S-M-Tage für die Haarkur werden einfach ignoriert, da Haarkuren schließlich nur in Zusammenhang mit einer Haarwäsche funktionieren, zumindest steht auf der Verpackung, dass man sie nach der Haarwäsche anwenden soll, und da ich meine Haare nicht wasche, kann ich sie auch nicht kuren. Ich pack mir ja auch kein After-Sun auf die Haut, wenn ich gar nicht in der Sonne war. Wenn man ohne Spiegel und soziale Kontakte lebt, ist das alles auch gar nicht mehr so wichtig.
Ich schalte zu ProSieben, zu meiner Lieblingssendung We are Family . Heute dreht sich in der Reality Soap alles um eine sehr bedauernswerte Hartz-IV-Familie. Die Frau, um die es geht, ist seit 18 Jahren arbeitslos. Der Ehemann und Vater ihrer vier Kinder ist vor sieben Jahren abgehauen, und sie bezieht seitdem Hartz IV. Das Problem ist nicht, dass sie nicht arbeiten will, das Problem ist, dass sie sich nicht mehr traut zu arbeiten, was aber im Grunde auch kein Problem ist, weil diese Frau sowieso niemals wieder einen Job finden wird. Mit nur noch sieben Zähnen im Mund und einem Gesicht wie ein seit
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