Abgebrezelt
Wagen.
»Christian?«
Er dreht sich noch mal um.
»Ja?«
»Hätten Sie nicht Lust, ein Glas von Ihrem tollen Wein zusammen mit mir zu trinken?«, frage ich ihn in einem plötzlichem Anflug von Angst vor der leeren Wohnung und der damit verbundenen Einsamkeit, »also, so rein freundschaftlich!«
Er zögert nur kurz, bevor er sagt, dass er sehr gerne noch ein Glas Wein mit mir trinken würde, also so rein freundschaftlich. Ich krame meinen Schlüssel aus der Tasche und schließe die Haustür auf. Christian schließt derweil seinen Hybrid ab, nimmt mir die Tüten wieder ab und folgt mir hoch in meine Wohnung. Ich bin sehr froh, dass wir Frau Raabe nicht über den Weg laufen, mit diesem Mann im Schlepptau würde sie mich dann wohl endgültig für verrückt erklären.
Als ich die Wohnungstür aufschließe, schäme ich mich, weil es in meiner Bude übler mieft, als in einem fensterlosen Affenkäfig. Das ist mir in den letzten Tagen gar nicht aufgefallen. Es riecht vor allem nach Müll, der für längere Zeit nicht mehr entsorgt worden ist, und nach ungewaschener Jessica, die den kompletten Sauerstoff aus der Wohnung weggeatmet und keinen neuen zugeführt hat. Ich gehe gleich in die Küche durch und reiße das Fenster auf. Irgendwie muss mir in den letzten Tagen auch entgangen sein, dass meine Wohnung ziemlich schlimm aussieht. Schmutzige Töpfe, Teller und Gläser stehen überall rum, zwei leere Pizzakartons liegen auf dem Boden, und auf dem Herd schimmelt der Rest einer Dosensuppe munter vor sich hin, der an dem feinen Düftchen in meiner Wohnung wahrscheinlich nicht ganz unbeteiligt ist. Highlight sind aber die sieben leeren Weißweinflaschen und die beiden leeren Sektflaschen, die ebenfalls in einer Ecke auf dem Boden stehen und liegen.
»Tut mir leid, dass es hier so aussieht. Ich hatte gestern eine kleine Party und bin noch nicht zum Aufräumen gekommen«, versuche ich mich rauszureden und würde mir selbst kein Wort glauben. Christian ist davon ziemlich unbeeindruckt. Er räumt kommentarlos ein paar dreckige Teller zur Seite, als wären es lediglich alte Zeitschriften, und stellt die Einkaufstüten auf die Arbeitsplatte. Dann fängt er an, die Sachen, die er gekauft hat, aus der Tüte zu holen und in den verwaisten Kühlschrank zu räumen. Es ist wesentlich mehr als das, was ich bestellt hatte. Ich sehe unter anderem Tomaten, Orangen und frischen Basilikum und erinnere mich kurz an ein Leben, in dem ich sehr auf meine Ernährung geachtet habe. Was der Kilocoach wohl macht? Wahrscheinlich hat er mich schon aufgegeben, so wie ich mich selbst aufgegeben habe. Ich schnappe mir schnell den Topf mit der alten Suppe und verlasse die Küche Richtung Bad.
Der Schmerz ist groß, als ich mit meinem Kopf voll gegen das Regal im Flur donnere. Noch schlimmer ist allerdings, dass mir durch den Aufprall der Topf mit der schimmeligen Suppe aus der Hand rutscht und auf den Laminat knallt, natürlich so, dass sich der komplette widerliche Inhalt auf den Boden ergießt und sich ein säuerlicher Verwesungsgeruch in meinem Flur ausbreitet. Oder bin ich das, die so langsam vor sich hin fault? Ich fühle mich plötzlich unendlich schwach und rutsche mit dem schmerzenden Rücken an der Wand entlang, bis ich schließlich mit angewinkelten Beinen vor der Sauerei auf dem Fußboden zum Sitzen komme. Christian kommt aus der Küche, um nachzusehen, was passiert ist.
»O Gott! Alles in Ordnung, haben Sie sich verletzt?«
Och bitte, nicht schon wieder diese Frage!
»Neeeeeeeeiiiiiiiiin …!«
»Aber so was kann doch mal passieren! Das ist doch nicht so schlimm!«
»Doooooooochhhhhhhh …!«
Dachte ich vor einigen Tagen noch, dass man nicht weiter sinken kann, werde ich jetzt eines Besseren belehrt. Die Wege nach unten sind anscheinend endlos.
»Sie haben da eine Beule an der Stirn!«, bemerkt Christian, »sind Sie vor das Regal gelaufen?«
»Nein, Sie Schlaumeier, das ist das internationale Warenzeichen für Schönheit und Intelligenz!«
Jetzt habe ich also auch noch eine Beule auf der Stirn. Wenn ich so weitermache, gibt es in meinem Gesicht bald keinen Quadratzentimeter mehr, der nicht in irgendeiner Form verunstaltet ist.
»Vielleicht sollten Sie die Sonnenbrille im Dunkeln absetzen und Licht anmachen. Das würde Ihr persönliches Unfallrisiko ganz bestimmt stark minimieren.«
»Sie klingen wie ein Versicherungsvertreter und nicht wie ein Weinhändler.«
Er lacht, packt mich wie bei der Rettung eines Schiffbrüchigen unter den
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