Abgebrezelt
und fühle mich kein Stück unwohl, ja, ich vergesse sogar für kurze Zeit, dass mit mir was nicht stimmt. Es ist ein bisschen so, als würde man im tiefsten Winter für ein paar Stunden auf die Kanaren fliegen, mit 20 Grad plus, azurblauem Himmel und goldgelbem Sandstrand. Nachdem Christian und ich kiloweise Nudeln gegessen, stundenlang über Gott und die Welt geredet haben und nach der zweiten Flasche zum »Du« übergegangen sind, verabschiedet sich Christian gegen ein Uhr von mir. Er drückt mir ein Küsschen auf die Wange und verschwindet die Treppe hinunter.
Ich starre ihm hinterher. Das hatte nicht mal den Hauch von einer Anmache. Nix. Einfach Nix! Er hat noch nicht mal versucht, mich zu küssen! Bin ich wirklich so unattraktiv, dass noch nicht mal ein Mann wie Christian einen winzigen Funken sexuelles Interesse an mir zeigt? Oder hat er es vielleicht einfach nicht gewagt, eine Frau wie mich zu verführen? Aus Selbstschutz entscheide mich für Lösung b).
EINUNDZWANZIG Süße Rache
Am nächsten Morgen wache ich wesentlich besser gelaunt auf als die letzten Tage. Ich gehe duschen, putze mir die Zähne und kämme mir die Haare. 20 Minuten dauert das Ganze insgesamt. Der Blick in den Spiegel, der immer noch verhängt ist, beschränkt sich nach wie vor darauf, zu überprüfen, ob sich mein Zustand irgendwie verändert hat. Hat er nicht!
Meine anfangs verhältnismäßig gute Laune verabschiedet sich wieder, vor allem, als ich mir meinen Körper etwas genauer anschaue. Man könnte ja meinen, dass ich in meinem Zustand verstärkt auf eine gute Figur setze und alles dafür tun würde, dass zumindest die erhalten bleibt, aber das Gegenteil ist der Fall. Anstatt zu trainieren und mich vernünftig zu ernähren, setze ich alles daran, dass ich nicht nur eine Gesichtsbaracke bin, sondern auch noch eine fette Qualle mit tellergroßen Dellen in den Oberschenkeln und einem Arsch, für den Ryanair mir demnächst zwei Sitzplätze in Rechnung stellt. Tütensuppen, Chips, Schokolade, Pasta, literweise Weißwein und null Bewegung – Kleidergröße 42, ich komme!
Aber vielleicht liegt die Ignoranz, die ich meinem Körper im Moment entgegenbringe, ja auch an einem unterbewussten Ästhetikempfinden, von dem ich bisher gar nicht wusste, dass ich es habe. Vielleicht sorgt dieses Ästhetikempfinden ja dafür, dass mein Körper auch jetzt zu meinem Kopf passt. Scheiße. Dann messe ich meine Oberschenkel, und meine Scheißlaune wird zu einer Riesenscheißlaune. Was hat dieser Arsch von Roland mir nicht alles angetan! Den Tag verbringe ich damit, Rammstein zu hören und mir vorzustellen, was ich mit Roland alles anstellen würde, wenn Folter in Deutschland erlaubt wäre. Elektroschocks, Schlafentzug und Waterboarding in Guantánamo sind dagegen Ferien auf dem Bauernhof.
Am Abend bereite ich mich auf meine Racheaktion vor. Ich bin komplett schwarz angezogen, trage eine schwarze Wollmütze auf dem Kopf und natürlich meine schwarze Sonnenbrille. Sogar schwarze Turnschuhe habe ich an. Als ich, mit meinem Rucksack auf dem Rücken, gerade das Haus verlassen will, klingelt es an der Tür. Es ist Christian. Er hat eine Einkaufstüte und einen Blumenstrauß aus dem Supermarkt in der Hand.
»Hilfe! Eine Einbrecherin!«, scherzt er, als er mich sieht. »Jetzt weiß ich wenigstens, was du beruflich machst!«
»Wer weiß, vielleicht schule ich ja tatsächlich noch um! Ein Job in der Dunkelheit käme mir im Moment auf jeden Fall entgegen«, kontere ich und lasse Christian in die Wohnung. Er geht direkt in die Küche und stellt die REWE-Plastiktüte auf die Arbeitsplatte. Ich bleibe im Türrahmen stehen.
»Oder warst du heute etwa schon einkaufen?«
»Natürlich nicht. Du weißt doch, dass ich im Moment ein bisschen unpässlich bin.«
»Unpässlich? Ich find dich ganz passend!«
Das hört sich ja fast wie ein Flirtversuch an und irgendwie bin ich doch erleichtert, dass Christian zumindest versucht, mit mir zu flirten, wenn er mich schon sexuell unattraktiv findet. Mein Unterbewusstsein hat sich anscheinend doch für Lösung a) in der Frage: a) zu unattraktiv oder b) unerreichbar entschieden. Man kann sich selbst einfach ganz schlecht verarschen.
»Passend wozu?«
»Hmmm, passend zu dem Lammfilet, dem Rucola-Salat den Prinzessbohnen und dem Chardonnay zum Beispiel.«
»Da bin ich aber froh, dass du keine rote Grütze und Haferschleim mitgebracht hast.«
»Und zum Nachtisch gibt es eine wunderbar zart schmelzende Mousse au
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