ABGEFAHREN: Auf dem Rad durch Deutschland - mit wenig Geld und viel Gepäck (German Edition)
die Radler-Seele. Schwester Iniga gibt mir Preisnachlass für die Übernachtung mit Frühstück. Das Abendessen schenken mir die Schwestern, ebenso ein Proviantpaket am nächsten Morgen.
Das Kloster Tiefenthal mit märchenhaftem Garten hinter dem Anwesen ist ein Ort zur Einkehr und Besinnung. Und für mich zum Krafttanken. In den Ursprüngen des Konvents ging es der Gründerin darum, den niedrigsten Weg zu gehen und um die bedingungslose Bereitschaft des Dienens, erzählt mir Schwester Iniga.
Die Wurzeln des Klosters reichen bis zu den Zisterzienserinnen ins 13. Jahrhundert zurück. Vor allem die jüngere Geschichte ist sehr bewegt: Als der Staat im Rahmen der Säkularisation 1803 alle Klöster und Abteien in Deutschland enteignete, wurde Tiefenthal zunächst zum Sitz einer Knochen- und Lumpenmühle, später waren hier eine Papierfabrik, ein Tanzlokal und ein Kelterhaus. Die jeweiligen Besitzer sollen glücklos beim Geschäftemachen gewesen sein. In einer Legende heißt es, dass die letzte Äbtissin bei der Vertreibung aus dem Kloster noch schnell einen Fluch aussprach…
Mit der Ankunft der Armen Dienstmägde um 1900, bekam das Klosterleben wieder Aufwind. Bis zur Nazizeit. 1943 zog die SS ein und errichtete eine Spionage-Abteilung mit Funkstation. Anfang 1945 bombardierten die Amerikaner das Kloster. Als die Armen Dienstmägde rund eineinhalb Jahre später zurückkamen, fanden sie eine ausgebrannte Ruine vor, die sie jedoch allmählich mit eigenen Händen und vielen Helfern wieder in ein Kloster verwandelten. Heute existieren Kloster und Bildungshaus, in dem zum Beispiel Exerzitienkurse und Besinnungswochenenden auf dem Programm stehen, nah beieinander.
Die freundliche Schwester Iniga ist mit Mitte sechzig die jüngste Nonne im Kloster Tiefenthal. Sie ist ganz zivil gekleidet, denn den Frauen sei es freigestellt, die Tracht zu tragen, erklärt sie. Schwester Iniga, seit 1965 in der Gemeinschaft, trägt eine spezielle Kette als Zeichen der Verbundenheit.
Ich genieße an diesem Abend den Luxus einer Dusche, einer reichlichen Abendmahlzeit, eines Spaziergangs durch den Garten, eines frisch bezogenen Bettes. In das falle ich wie ein Stein. Und am nächsten Morgen hat mein Wankelmut wieder einen mächtigen Dämpfer einstecken müssen. Ausgeruht und ausgeschlafen schwinge ich mich nach dem Abschied von den warmherzigen, gastfreundlichen Schwestern auf mein Rad, das übrigens „Hercules“ heißt. Was soll mir da schon passieren…
Kapitel 6
Das Paradies liegt in Hessen
Am siebten Tag führt die Route durch das Naturschutzgebiet Niederwallufer Bucht, in dem mich ein Konzert aus Vogelgezwitscher begleitet. Hier brüten Nachtigall und Grünspecht, und ein paar Kilometer weiter, in Schierstein, stehen etliche Störche auf sattgrünen Wiesen und lassen sich von staunenden Passanten kein bisschen aus der Ruhe bringen. Eine Weißstorchkolonie lebt hier schon seit Jahren. Gegen 11 Uhr erreiche ich Mainz, ich mache Rast und lasse mir die belegten Brötchen schmecken, die mir die Schwestern vom Kloster Tiefenthal mitgegeben haben.
Rechtsrheinisch geht es weiter, vorbei an Ginsheim-Gustavsburg, durch die hessischen Rheinauen nach Erfelden. In der Nachmittagshitze schiebe ich mein Rad eine Brücke hoch. Keuchend stehe ich oben, als hinter mir ein Mann angeradelt kommt. „Holland?“, fragt er. „Nein, Ruhrgebiet.“ Ihn interessiert, woher ich komme und wohin ich will. Meine Art zu reisen gefällt ihm, er will sie mit fünf Euro honorieren. Weil ich ihm auf 50 Euro nicht herausgeben kann, lädt er mich in die Vogeltränke ein, ein nahe gelegenes Lokal des Vereins der Vogelfreunde. Ich habe keinen Piep gebettelt.
Hans Linzing heißt der freundliche, hilfsbereite Mann, er wohnt in Stockstadt, lebt in Altersteilzeit und macht öfter Radausflüge in die Umgebung. An der Vogeltränke genieße ich eiskaltes Radler, wir plaudern und plötzlich sagt Hans: „Mensch, ich weiß, wo du übernachten könntest. Ich bringe dich hin…“ Wir fahren nicht lange durch sattgrüne Wälder, bis wir bei den Naturfreunden am Altrhein bei Stockstadt ankommen, mitten in Hessens größtem Naturschutzgebiet Kühkopf-Knoblochsaue. Auf dem Anwesen haben Detlef Wohlert und seine Frau Rosemarie das Sagen. Bedächtig und ohne eine Miene zu verziehen, hört sich der frühere Vereinsvorsitzende und heutige Hausmeister an, was Hans Linzing über mich erzählt. Und dann schlägt Hans vor, dass das Mädel doch in dem großen weißen Zelt schlafen
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