Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Baustelle als Dachdecker arbeitete und auf den Spitznamen Rocco hörte, wie Herzfeld später erfahren sollte. Zuerst dachte er noch, der unflätige Befehl gälte ihm, doch dann geschah das Unfassbare: Der Prolet trat der hochschwangeren Hündin mit seinen schweren, eisenverstärkten Bauarbeiterstiefeln mit voller Wucht in den prallen Bauch.
Das Tier schrie auf. Entsetzlich laut und entsetzlich spitz, und mit dem Schmerzensschrei legte sich in Herzfelds Kopf ein Schalter um, der mit »blinde Wut« beschriftet war. Von einer Sekunde auf die andere befand sich der Herr Professor nicht länger in seinem schlanken, aber untrainierten dreiundvierzigjährigen Körper. Er stand neben sich und handelte wie ferngesteuert, ohne einen Gedanken an mögliche Konsequenzen zu verschwenden.
»Hey, du feiges Arschloch!«, hörte Herzfeld sich sagen, gerade im letzten Moment, bevor der Mann die in die Enge getriebene Hündin ein zweites Mal traktieren konnte.
»Was?« Rocco drehte sich um und starrte Herzfeld an, als stünde ihm ein Eimer Kotze im Weg. »Was hast du Schwuchtel gesagt?«
Mittlerweile trennte sie nur noch ein kleiner Schritt. Die schwere Werkzeugkiste wirkte in den Händen des Dachdeckers wie ein leerer Schuhkarton.
»Welches meiner vier Worte hast du nicht verstanden? Das
feige
oder das
Arschloch?
«
»Na warte, dir prügel ich die Scheiße aus dem Darm …«, hatte Rocco ansetzen wollen, doch alles, was ihm nach dem S-Wort über die Lippen kam, war für die umstehenden Schaulustigen nicht mehr verständlich. Herzfeld nutzte das Überraschungsmoment, schnellte wie eine Sprungfeder nach vorne und rammte seine Stirn in das quadratische Gesicht des Tierquälers.
Es knirschte, Blut schoss ihm aus der Nase, aber Rocco gab keinen Laut von sich. Er schien vor allem verblüfft.
Die Hündin, die glücklicherweise nicht ernsthaft verletzt zu sein schien, hatte sich aus der Gefahrenzone verkrochen und war zu ihrem Besitzer geflüchtet, der sich wieder eingefunden hatte und jetzt gemeinsam mit anderen Zuschauern den ungleichen Kampf beobachtete: Herzfeld gegen Goliath. Hirn gegen Muskeln. Wut gegen Kraft.
Am Ende siegte das Glück über das Gesetz der Stärke.
Herzfeld wehrte ein, zwei Schläge ab, musste aber einen schweren Treffer gegen den Brustkorb hinnehmen und geriet schon ins Wanken, als der Arbeiter auf einer vereisten Bodenplatte ausrutschte und mit dem Hinterkopf auf dem Gehweg aufschlug. Dadurch war sein Gegner zwar noch lange nicht ausgeschaltet, aber ein leichtes Ziel für Herzfelds Winterstiefel. Wieder und wieder trat er dem Tierquäler ins Gesicht, in den Magen, gegen die Brust. Wieder und wieder rappelte der Mann sich auf, doch wann immer er es geschafft hatte, sich abzustützen, ließ Herzfeld ihm erneut die Faust ins Gesicht krachen. Traktierte seinen Unter-, dann den Oberkiefer und ließ erst von dem Mann ab, als er sich nicht mehr rührte.
Später erfuhr Herzfeld von dem Polizisten, der seine Aussage aufnahm, dass Rocco nach Einschätzung der Ärzte einen Monat lang keine feste Nahrung mehr würde zu sich nehmen können und knapp an einem schweren Schädel-Hirn-Trauma vorbeigeschlittert war. Herzfelds geschwollene Hand würde schneller verheilen, allerdings dürfte es etwas länger dauern, bis er mit den lädierten Fingern wieder schmerzfrei sezieren konnte. Daran hatte er während seines Ausrasters natürlich ebenso wenig gedacht wie daran, dass seine Behörde kaum erfreut darüber sein würde, einen Abteilungsleiter in ihren Reihen zu wissen, gegen den ein Strafverfahren eingeleitet wurde.
Aus diesem Grund hatte Herzfeld heute Nachmittag einen Termin in der Personalabteilung. Im Augenblick jedoch sah er noch deutlich größere Probleme auf sich zukommen als eine Beurlaubung.
Jetzt, da er vor ihnen stand, erkannte er die Kollegen des Mannes, den er am Tag zuvor krankenhausreif geprügelt hatte, und die ihm nun in geschlossener Front den Durchgang versperrten.
»Was?«, fragte er. Herzfelds Atem dampfte. Der Kragen war ihm mit einem Mal zu eng und scheuerte am Hals. Er spürte Adrenalin durch seine Adern jagen, allerdings viel zu wenig, um die Kräfte von gestern zu mobilisieren. Heute könnte er sich nicht einmal gegen einen der Kerle wehren, geschweige denn gegen vier auf einmal.
»Rocco hat starke Schmerzen«, begrüßte ihn der Kleinste der Gruppe, der den Hammer in der Hand hielt. Ein pockennarbiger, drahtiger Typ mit rasierter Glatze.
»Und?«
»Und ihm geht’s echt scheiße,
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