Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Rechtsmediziner,
dachte Herzfeld. Erst der Zettel im Kopf der Toten, dann die zweite Leiche ausgerechnet auf einer Insel, in deren Krankenhaus Herzfeld schon oft seziert hatte, vor seiner Berliner Zeit, als er noch in der Uniklinik in Kiel arbeitete. Wer immer dahintersteckte, wusste genau über ihn Bescheid.
»Ich werde Ender gleich anrufen und Sie ankündigen, Linda. Sprechen sie bitte mit niemand anderem, bis ich bei Ihnen bin.«
»Bis
Sie
bei mir sind?«, höhnte Linda. »Haben Sie mir vorhin nicht zugehört? Orkan Anna nimmt gerade Anlauf für die Olympischen Winterspiele im Häuserweitwurf. Das Dach vom Krankenhaus ist übrigens schon abgedeckt, da werde ich sicher keinen erreichen.«
Ingolf hupte wieder.
»Wie lange wird das noch andauern?«, fragte Herzfeld und signalisierte dem Praktikanten, dass er es sich anders überlegt hatte.
»Der Katastrophenschutz sagt, mindestens drei Tage«, hörte er Linda gegen den Wind brüllen, während er in den Porsche kletterte. Der plötzliche Temperaturanstieg ließ ihn erschauern. Ingolf schenkte ihm ein leicht süffisantes »Na, wer sagt’s denn«-Lächeln und trat aufs Gaspedal, kaum dass Herzfeld die Tür zugezogen hatte und sogleich von den Beschleunigungskräften in die beheizten Ledersitze gedrückt wurde.
»Die Wellen sind meterhoch, hier würde nicht mal Moses mehr rüberkommen. Wir sind völlig abgeschnitten.«
»Ich finde schon einen Weg«, versicherte Herzfeld und beendete das Gespräch mit Linda, als sie die Ausfahrt raus auf die Straße schossen.
Ingolf warf ihm einen fragenden Blick zu. »Und, wo soll’s hingehen?«
»Helgoland«, antwortete Herzfeld, und Ingolfs süffisantes Lächeln verschwand.
15. Kapitel
Helgoland.
H ey, wissen Sie eigentlich, weshalb Männer keine Cellulitis bekommen?«
»Bitte?«, fragte Linda, verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel. Eben noch hatte Ender Mueller ihr die Ohren vollgejammert, dass alle Verantwortlichen – die Ärzte, Schwestern und Pfleger – sich verdrückt und ihn allein in dieser »Klinikruine« zurückgelassen hätten, und jetzt wollte ihr der Hausmeister tatsächlich einen Witz erzählen?
»Cellulitis, also Orangenhaut, Sie wissen schon. Wieso kriegen Männer so was nicht?«
»Weil’s scheiße aussieht?«, klaute Linda ihm die Pointe. Sie zog hinter Enders Rücken skeptisch die Augenbrauen zusammen. Der Hausmeister ging zwei Schritte vor ihr und schob eine Rolltrage einen nur notdürftig ausgeleuchteten Krankenhausflur entlang. Die Hauptstromleitung funktionierte nicht, und um das Notstromaggregat nicht unnötig zu belasten, waren die Lampen hier unten auf Sparbetrieb geschaltet.
»Ach, den kennen Sie schon?« Ender drehte sich kurz zu ihr um. Sein Blick wirkte wie der eines Kindes, dem an der Supermarktkasse zehn Cent zum Bezahlen der Kaugummis fehlen, aber Linda war nicht in der Stimmung, ihn wieder aufzumuntern: »Sie rollen gerade eine Leiche in die Pathologie und erzählen dabei schlechte Witze? Was zum Teufel stimmt nicht mit Ihnen?«
Ender zuckte wie ein geschlagener Hund zusammen, was ihn noch kleiner wirken ließ, als er ohnehin schon war. Der Deutschtürke war das, was Lindas Bruder einen »Sechzehn-zu-Neuner« nennen würde: ein Muskelzwerg im Breitbildformat. Was dem Hausmeister an Körpergröße fehlte, versuchte er offensichtlich mit Hanteltraining wettzumachen. Seine Oberarme erinnerten Linda an große Schinken, die in Fleischereien von den Decken hängen. Er trug ein langärmeliges T-Shirt unter einem blauen Handwerkeroverall, der entweder in der Wäsche eingelaufen war oder mit Absicht so eng anlag, dass er die enormen Oberschenkel zur Geltung brachte (Linda tippte schwer auf Letzteres).
Immerhin schienen die Muskelberge nicht allein auf einem Anabolikafundament gewachsen zu sein, schließlich hatte Ender es ganz alleine geschafft, die Leiche vom Strand inmitten des Sturmes in sein Elektromobil zu wuchten. Linda hatte ihm stumm und fassungslos zugesehen. Stumm, weil es keine Worte gegeben hätte, die Entwicklung zu beschreiben, die ihr Leben in den letzten Stunden genommen hatte. Fassungslos, weil es diesen Ender Mueller tatsächlich gab und das alles kein schlechter Scherz war.
Linda hatte den Hausmeister, den sie auf Mitte, Ende dreißig schätzte, nach mehreren Anläufen im Gasthaus
Bandrupp
erreicht. Im Krankenhaus (die Nummer der Klinik hing auf einem Notfall-Zettel am Küchenbrett) war – wie erwartet – niemand ans Telefon gegangen, und seine private
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