Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
Ufer des Rheins, Andernach gegenüber, noch immer Hunderte Krieger mit ihren Pferden und mindestens ebenso viele Knechte mit den Lasttieren und einem Teil der in den nahen Gauen zusammen getriebenen Menschen, Rindern, Schafen und Ziegen darauf warteten, über den Fluss gebracht zu werden. Auch einige mit Beutegut beladene Wagen standen noch in der sich stauenden Menge. Um jeden Nachen, der leer von der anderen Seite zurückkam, gab es, sobald er anlegte, Streit und Handgreiflichkeiten. Die Anführer der herzoglichen Gefolgschaften, beauftragt, dafür zu sorgen, dass die Überfahrt schnell, verlustfrei und in größtmöglicher Ordnung vor sich ging, brüllten Befehle, warfen sich Drängenden entgegen, sparten nicht mit Faustschlägen.
Auf dem Rhein kämpften die Ruderer und Schiffsführer gegen die nach den heftigen Regenfällen der letzten Wochen besonders starke Strömung. Auch Windböen machten ihnen zu schaffen. Manches Boot wurde abgetrieben und gelangte erst abseits des kleinen Hafens ans andere Ufer. Mit aller Kraft mussten sich die Männer, die Wagen und Vieh auf Flößen hinüber brachten, mit ihren Stangen der Strömung entgegenstemmen.
Seit den frühen Morgenstunden pendelten die Lastkähne der Andernacher Kaufleute und die Fischerboote zwischen dem Ostufer und dem Hafen. Die Vorhut des herzoglichen Heeres war am Tag zuvor erst bei Einbruch der Nacht eingetroffen und konnte nicht mehr hinübergebracht werden. Deren Anführer, die vor der Ankunft |297| der Hauptmasse alle Vorbereitungen für einen reibungslosen Ablauf zu treffen hatten, gerieten in Zorn, als sie feststellten, dass auf beiden Seiten kaum die Hälfte der Boote bereit war, mit denen sie gerechnet hatten. Nicht wenige Fischer und Händler hatten ihre Kähne gleich ganz unbrauchbar gemacht oder sogar in den nahen Gehölzen verschwinden lassen. Lieber nahmen sie die Beschimpfungen und Schläge der wütenden Krieger hin, als dass zu all den Unbilden auch noch der Verlust ihres kostbarsten Eigentums kam. Tatsächlich waren zwei der absichtlich schadhaft gemachten Kähne, weil überladen, bereits gesunken.
Mit wachsender Ungeduld beobachteten die beiden Herzöge von einem flachen Hügel am Ostufer aus das schwierige Unternehmen. Eberhard stieg immer wieder hinab zu den Anlegestellen, schrie Befehle und traf Entscheidungen, wenn man sich nicht einigen konnte, wer oder was Vorrang hatte. Gestikulierend und schimpfend schob er sich durch das Gewühl der Wartenden, seine Silbermähne flatterte im Winde. Aufmerksam achtete er darauf, dass die Knechte die Truhen mit Beute, die er für seinen eigenen Bedarf bestimmt hatte, in sichere oder ihm sicher erscheinende Kähne verluden und dass diese nicht überfrachtet wurden. Die Verteilung der für die Gefolgschaften bestimmten Beutestücke – der Schwerter, Pokale und Silberbecher, der edlen Pelze und Stoffe, der zur Sklaverei bestimmten Menschen, der Pferde, Kühe, Schafe, Hunde und Jagdfalken – sollte erst auf der anderen Seite vor sich gehen, wenn alles hinter den Mauern der Pfalz untergebracht, gesichtet, geordnet und jedem Einzelnen nach Verdienst zugemessen war.
Herzog Giselbert war das alles nur unangenehm. Verdrießlich blickte er von seinem erhöhten Platz hinunter auf das Gewimmel am Ufer. Er fror in dem Mantel von Otterfell, in den seine kümmerliche Gestalt gehüllt war, bis über die Ohren hatte er die riesige Zobelfellkappe gezogen. Da es wieder zu regnen anfing, suchte er Schutz unter Bäumen. Um die Beute kümmerte er sich kaum, ihm stand – entsprechend dem Anteil seiner Gefolgschaft an den Überfällen in den fränkischen und einigen angrenzenden sächsischen Gauen – auch höchstens ein Drittel zu. Es war Eberhards Vergeltungszug gegen seine Vettern, es war dessen konradinische Familienrache gewesen, nicht die seinige. Er hatte mitgetan, um sich die Freundschaft und vielleicht militärische Unterstützung des Franken zu sichern, die er für seine weiteren Pläne brauchen würde. |298| Auch jetzt harrte er auf dem Ostufer nur aus, um Eberhard seine Verbundenheit zu zeigen. Er hätte sich längst hinüberrudern lassen können, alles was hier zu tun war, erledigten seine Gefolgschaftsführer.
Giselberts eigene Rachegelüste waren durch die wenigen Ausflüge ins Sächsische nicht befriedigt, die dabei angerichteten Schäden entsprachen noch lange nicht den Verheerungen vor Chèvremont. Aber er konnte warten und würde im geeigneten Augenblick handeln. Zunächst galt es für ihn, sein
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