Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
dort, wo sie eintrafen, nur ein Fischerdorf. Sie waren nicht überrascht und ahnten den Grund, warum sie auch auf dieser Seite die meisten Kähne angepflockt sahen, obwohl es längst Zeit zur Ausfahrt war. Der kleine Graf war hier beliebt und er kannte fast jeden. Von Hütte zu Hütte gehend, erfuhr er, dass ein Abgesandter der Herzöge den Fischern den Befehl überbracht hatte, ihre Boote zum Übersetzen des Heeres und seines umfangreichen Trosses für diesen, den nächsten und vielleicht noch den übernächsten Tag bereit zu halten. Die Wut der Fischer war groß, der Verdienstausfall für die entgangenen Fänge würde empfindlich sein. Kurzbold ließ sich zum anderen Ufer rudern. Auch hier, auf der westlichen Seite, in der Siedlung der Pfalz Andernach, kannte er viele der Handwerker, Händler und Fischer. Deren Stimmung war noch gedrückter und gereizter als die der Leute auf dem Ostufer. Vor zwei Wochen hatte das Heer der Herzöge die Pfalz besetzt und sich, vor dem Beutezug in die ostrheinischen Gaue, auf ihre Kosten ausgestattet, verpflegt und vergnügt. Sie mussten es über den Rhein bringen und die Herzöge befahlen ihnen, alle Schiffe und Boote für die Rückkehr bereit zu halten. Sie |295| waren ebenfalls tags zuvor von dem Abgesandten der beiden daran erinnert worden.
Der kleine Graf hatte wenig Mühe, die Geschädigten und Erbitterten für seinen Plan zu gewinnen. Sie hatten Vertrauen zu ihm, kannten ihn als freundlichen, leutseligen Herrn, als Schlaukopf, als geriebenen Kerl. Er war ihnen wohlgesinnt, und wenn vielleicht nicht zu ihrem Vorteil, würde er doch zum Nachteil der Beutemacher handeln, die in seinen Gau eingefallen waren. Ohne ihnen zu verraten, was er wirklich vorhatte, brachte er sie dazu, alles zu tun, um das Übersetzen der Rückkehrer zu erschweren und zu verzögern. Mindestens einen ganzen Tag sollte das Unternehmen beanspruchen. Ohne dass es nach bewusster und abgesprochener Hintertreibung aussah, sollten nach und nach immer mehr Wasserfahrzeuge wegen irgendeines Schadens ausfallen, der später leicht behoben werden konnte, doch augenblicklich den weiteren Einsatz ausschloss. Man begann gleich damit, Planken zu lockern und kleine Löcher in die Bootswände zu bohren.
Mittlerweile hatte sich auch der junge Aimo am Rheinufer eingefunden und noch einmal bestätigt, dass es eine Vorhut des herzoglichen Heeres gab. Diese musste noch am selben Tag eintreffen, vermutlich jedoch erst gegen Abend. Es war deshalb Zeit für die beiden Grafen, ihre Gefolgschaften eine Viertelmeile vom Flussufer zurückzuziehen und in einem Wäldchen das Lager zu errichten. Auf einer Felsplatte, hinter dichtem Gebüsch wurde in der Nähe des Rheinufers, am Rande des Fischerdorfes, ein Beobachtungsposten eingerichtet. Alle Bewegungen des Heeres der Herzöge konnten von dieser Stelle aus wahrgenommen werden.
„Bist du wirklich überzeugt“, fragte Udo seinen Vetter, nachdem die beiden Grafen die erste Wache übernommen hatten, „dass Eberhard und Giselbert als Letzte hinüber gehen werden?“
„Ich müsste unseren Vetter Eberhard schlecht kennen“, erwiderte Kurzbold, „wenn ich dessen nicht sicher wäre. Er wird nicht eher in ein Boot steigen, als alles Beutegut drüben ist. Es könnte ja unter seinen Leuten Diebe geben. Ist er erst auf der anderen Seite, könnten sie sich überlegen, ob sie ihm nachfolgen sollten. Oder ob es nicht besser wäre, sich ein paar wertvolle Stücke zu schnappen und zu verschwinden.“
„Eberhard mag so denken“, brummte Graf Udo, „was aber wird Giselbert tun?“
|296| „Zugegeben, das ist der schwache Punkt unseres Plans“, sagte Kurzbold. „Er könnte gleich übersetzen und drüben in der Pfalz das Kommando übernehmen. Dort müssen die Leute ja auch überwacht werden. Ich vertraue aber auf zwei Wahrnehmungen des Priesters. Zum einen die neue Freundschaft der beiden Herzöge … ihre Unzertrennlichkeit, wie er sagte. Zum anderen: ihren Leichtsinn und Übermut. Aber da fällt mir ein, dass ich noch etwas tun könnte. Siehst du die Schänke dort hinten, zweihundert Schritte vom Ufer entfernt? Dort gibt es eine Frau, die Frau des Wirtes, eine gewisse Liula. Es fällt mir nicht leicht, schon der Anblick von Frauen ist mir zuwider. Doch ich opfere mich für die Sache. Werde mich überwinden und mit ihr reden …“
Die Sonne, die am 2. Oktober 939 von Zeit zu Zeit hinter den eilig ziehenden Wolken sichtbar wurde, hatte längst den Zenit überschritten, als am östlichen
Weitere Kostenlose Bücher