Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
offensichtlich gewillt, den unterschiedlichen Meinungen auf ihre Art Nachdruck zu verleihen. Nur die Gegenwart der Königinmutter und ihrer geistlichen Begleiter verhinderte, dass sie gegeneinander losfuhren.
Niemand ahnte indessen, dass ein Mann, der während des Streites der Brüder die Halle betreten hatte, schon ein paar Augenblicke später allen Hoffnungen, Ansprüchen, Anmaßungen und Begierden ein Ende bereiten würde. Jeder kannte ihn und so wurde er |45| kaum beachtet, obwohl er eine auffällige Erscheinung war, von so hohem Wuchs, dass er jeden im Raum überragte. Allen war er von gelegentlichen Besuchen bei dem verstorbenen Grafen Siegfried bekannt, seinem älteren Bruder. Er genoss den Ruf eines tapferen Kerls und hatte sich mit seinen eigenen Männern an einigen Unternehmungen zur Sicherung der Grenze gegen die Sorben und Daleminzier beteiligt. Sein Name war Gero, er war um die vierzig Jahre alt und Graf im Nordthüringgau und im Schwabengau, wo er auch Eigengüter besaß. Als Sohn eines sächsischen Großen, der ein Vertrauter König Heinrichs gewesen war, hatte er eine Zeit lang zur Gefolgschaft des Prinzen Otto gehört und den Hof auf seinen Reisen begleitet. Daher kannte ihn auch die Königinmutter recht gut. Erst am Tage zuvor war er mit einem kleinen Gefolge auf der Merseburg eingetroffen. Keiner hatte daran gezweifelt, dass er nur zur Beisetzung seines Bruders gekommen war. Danach war er verschwunden, und niemand hatte sich darum gekümmert, ob er sich noch in der Burg befand oder ob er, schroff und ungeschlacht, wie es seinem Wesen entsprach, schon abgereist war, ohne von jemandem Abschied zu nehmen.
Als nun nach Thankmars letztem Aufschrei eine spannungsgeladene Stille eintrat, in der nur das leise Jaulen des verletzten Hundes zu hören war, überraschte es die meisten, plötzlich aus einer Ecke der Halle die tiefe, dröhnende Stimme des Grafen Gero zu vernehmen.
„Wovon ist hier die Rede? Von meiner Burg? Die ist mein Lehen. Vor drei Tagen habe ich es vom König erhalten.“
Alle Blicke richteten sich auf den hünenhaften Mann mit dem breiten, von einem rötlichen Bart überwucherten Gesicht, der, die Daumen hinter dem Gürtel, langsam näher trat.
Die Königinmutter war die Erste, die nach seiner unerwarteten Mitteilung die Sprache wiederfand.
„Wie, Graf Gero? Was sagt Ihr da? Ihr sprecht von Eurer Burg? Welche meint Ihr denn?“
„Diese natürlich.“
„Die Merseburg?“
„Sie ist ab heute mein Lehen. Mit allem, was dazu gehört. Der König und ich … wir richten eine Markgrafschaft ein. Die künftige Nordmark.“
„Und Ihr sollt Markgraf sein?“
|46| „Das ist sein Wille. Er wird es auf dem nächsten Hoftag verkünden. Im September in Magdeburg.“
„Aber das ist doch nicht wahr!“, rief Thankmar außer sich. „Das ist unmöglich! Unmöglich!“
„Ihr glaubt, dass ich lüge?“, fragte der Graf gelassen. „Die Urkunde über das Lehen habe ich schon. Sie ist in meinem Gepäck, unten im Gefolgschaftsquartier. Lesen kann ich sie nicht, aber sie ist echt. Soll ich sie holen lassen? Die Herren dort“ – er deutete mit einer Kopfbewegung auf die beiden Geistlichen – „werden sie Euch vorlesen und alles bestätigen.“
„Es ist unmöglich!“, rief Thankmar noch einmal. „Wenn dies eine Markgrafschaft wird, steht das Amt nur einem zu – mir!“
„Und mir gehört die Burg!“, schrie Heinrich. „Weil ich Herzog von Sachsen werde!“
„Davon weiß ich nichts“, sagte Graf Gero und blickte mit seinen kalten, halb unter schweren Lidern versteckten Augen ungerührt auf die beiden fassungslosen, erregten Prinzen. „König Otto hat auf jeden Fall so entschieden, wie ich es Euch gesagt habe.“
„Aber warum hat er seinen Sinn geändert?“, sagte die ebenso überraschte Königinmutter wie zu sich selbst. „Es war beschlossen worden, dass Heinrich alles erhält, die Burg und …“
„Ah, das war beschlossen worden?“, rief Thankmar. „Das war beschlossen worden, Frau Mutter? Dass Heinrich mein Erbe erhält? Ihr wusstest es also doch!“
„Ich weiß nur, dass mein verstorbener Gemahl einer Lösung, wie sie uns eben mitgeteilt wurde, nie zugestimmt hätte“, sagte die hohe Frau verwirrt.
„Wenn Euch an einer Erklärung liegt, so ist sie sehr einfach“, nahm Graf Gero wieder das Wort. „Die Lage hier an der Grenze ist unsicher. So unsicher wie lange nicht mehr. Die Wenden und vielleicht auch die Magyaren glauben, das Reich sei nach dem Tode König
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