Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
jemand kommt! Ich schreie!“
„Wozu denn? Ich mache ja Platz. Auch ich kann freundlich und höflich sein.“
Heinrich trat einen Schritt zurück in die Nische. Petrissa ging rasch vorüber.
Als sie die erste Stufe der Treppe betrat, hörte sie ihn hinter sich sagen: „Dabei könnte ich dir und deinem Bruder zur Freiheit verhelfen. Der arme Tugumir … er tut mir so leid. Man hat ihn in Magdeburg eingekerkert. Man lässt ihn dort langsam verkommen.“
Petrissa verharrte auf der Stufe, wandte den Kopf und sah ihn starr an.
„Ihr wisst etwas von meinem Bruder? Ich habe seit Jahren nichts mehr von ihm gehört.“
|39| „Er lebt“, sagte Heinrich, der ihr nachgeschlendert war und, heuchlerisch einen Seufzer ausstoßend, zu ihr aufblickte. „Aber vielleicht nicht mehr lange …“
„So geht es ihm schlecht? Ist er krank?“
„Er siecht hinter dicken Mauern dahin. Wenn ihm nicht geholfen wird, ist es bald aus mit ihm.“
„Nein!“, rief sie. Und wie zu sich selbst fuhr sie flüsternd fort: „Er lebt … ich werde für ihn beten! Und dann … wenn der König das nächste Mal zu uns kommt, werfe ich mich ihm zu Füßen …“
„Warum willst du dich Odda zu Füßen werfen?“, fragte Heinrich lächelnd. „Es gibt einen besseren Weg, dasselbe zu erreichen.“
„Was meint Ihr damit?“
Er hob ihr Gewand ein wenig an, um ihre Fesseln zu streicheln. Sie stieß mit dem Fuß nach ihm und stieg rasch zwei Stufen höher hinauf.
„Ihr seid abscheulich! Und was könntet Ihr schon für meinen Bruder tun!“
„Vielleicht sehr viel.“
„Nur der König kann ihn retten.“
„Meinst du den jetzigen König oder den nächsten?“
„Den nächsten? Der König wurde erst vor kurzem gekrönt.“
„Aber er wird nicht ewig regieren. Es könnte ihm leicht etwas zustoßen. Habe ich Recht? Wer wird dann den Thron besteigen? Sein ältester Sohn, dein Wilhelm, ist nicht legitim. Sein zweiter, Liudolf, der von der Königin Edgith, ist gerade sieben Jahre alt. Unser Stiefbruder, der neidische, böse Tammo, kommt schon gar nicht in Frage. Wer also …?“
„Was wollt Ihr denn damit sagen?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Was meint Ihr damit … Es könnte ihm etwas zustoßen?“
„Oh, nichts, nichts, gar nichts! Überhaupt nichts!“ Unversehens brach er in ein albernes Gelächter aus. „Verstehst du denn keinen Spaß, du dumme wendische Betschwester? Das war doch ein Scherz!“
„Damit sollte man nicht scherzen, Herr Heinrich!“
Sie stieg weiter die Treppe hinauf.
Er folgte ihr und rief: „Aber auf jeden Fall werde ich Herzog von Sachsen! Dann unterstehen mir auch die Kerker von Magdeburg! Es wird dir leid tun … du wirst es bereuen!“
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Als Petrissa die Halle betrat, wurde kaum jemand auf sie aufmerksam. Zwei Gruppen hatten sich in gegenüber liegenden Ecken niedergelassen, als wollten sie nichts miteinander zu tun haben.
In der Nähe des Eingangs, an dem langen, wuchtigen Tisch saßen sich Thankmar und sein graubärtiger Gefolgsmann Thiadrich beim Brettspiel gegenüber. Drei jüngere Vettern des Thiadrich, Iglolf, Heriger und Roudhart, die auch zu Thankmars engsten Vertrauten gehörten, standen herum, sahen zu, gaben Ratschläge, spielten mit den struppigen Hunden ihres Gefolgsherrn.
Gegenüber, unter den hohen Fenstern und den Fresken, die Szenen aus König Heinrichs Magyarenschlacht wiedergaben, hatte sich in einem Armstuhl die Königinmutter Mathilde, die zur Beerdigung des Markgrafen aus Quedlinburg gekommen war, im Kreise von Geistlichen und Stiftsdamen niedergelassen. Ein hagerer, kahlköpfiger Chorherr aus Hildesheim, Friedrich, den alle mit Hochachtung behandelten, weil es hieß, dass er bald Erzbischof von Mainz sein werde, saß als bescheidener Diener Gottes auf einem niedrigen Schemel zur Rechten der hohen Frau und las ein Stück aus den Bekenntnissen des Kirchenvaters Augustinus vor. Zu ihrer Linken hatte der bleiche, streng blickende, immer wieder mit den Schultern oder den Füßen zuckende junge Bischof von Halberstadt, Bernhard, Platz genommen. Beide Geistliche stammten aus sächsischen Adelsgeschlechtern. Ein wenig abseits hockten auf einer Bank fünf Stiftsdamen, die Köpfe über Handarbeiten gesenkt und dem Vortrag lauschend.
Petrissas Erscheinen wurde zunächst nur von der Königinmutter bemerkt. Es war kein freundlicher Blick, den Frau Mathilde der Eintretenden zuwarf, deren Gesicht gerötet und deren Haube ein wenig verrutscht war. Die Königinmutter, etwas über vierzig
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