Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
Zelle über einen eigenen Fernseher oder ein Radiogerät verfügte. Außerdem war mir natürlich bekannt, dass die Nachrichtenübermittlung in der JVA Stadelheim schneller und reibungsloser funktioniert als in unserem Staatsapparat. Weil es dort nämlich keine hierarchischen und bürokratischen Hürden gab und gibt, während unser Meldeweg einem Hindernisparcours gleicht. Natürlich nicht in Ermangelung technischer Möglichkeiten im Zeitalter des Computers, sondern deshalb, weil es in der behördlichen
Hierarchie nichts Schlimmeres gibt, als jemanden, der davon überzeugt ist, wichtig zu sein, zu übergehen. Und weil man, wenn man wichtig ist, zu allem und jedem »seinen Senf« dazugeben muss, dauert es halt eine Zeit lang, bis eine Depesche dort angelangt ist, wo sie hingehört. Meist ein Dutzend Mal korrigiert, abgeändert, wieder korrigiert, weitergeleitet, abermals abgeändert, bis sie dann, zeitlich längst überholt, mit einem Inhalt versehen ist, der mit dem ursprünglichen nicht mehr viel gemein hat. Aber das nur am Rande.
Der richtige Mann, der mein Anliegen - eine Nachrichtensperre bis mindestens 9.00 Uhr - bei den anwesenden Reportern umzusetzen vermochte, war unser Dezernatsleiter. Weil es einfach nicht mehr zu schaffen war, unseren Beschuldigten so schnell aus der JVA herauszubekommen, dass er nicht vorinformiert werden konnte. Was soll ich sagen, es klappte. Der lokale Fernsehsender und der Polizeireporter des Bayerischen Rundfunks versprachen »Sendepause« bis 9.00 Uhr und keine Sekunde länger. Sie hatten Verständnis dafür, dass wir unseren Tatverdächtigen selbst informieren wollten. Und sie hielten ihr Versprechen. Die Nachrichtensperre hielt. Respekt.
Klaus F. ahnte irgendwie, dass etwas anders war an diesem Tag. Nicht, weil er schon so frühzeitig abgeholt wurde, sondern auch noch von Beamten der Mordkommission persönlich. Ansonsten war er mit dem üblichen Gefangenentransport zum Polizeipräsidium gebracht worden. Aber mit einer gewissen Vorahnung bzw. Verunsicherung bei ihm habe ich gerechnet, und das war auch meine volle Absicht: Er sollte nervös werden und
spüren, dass dies kein Tag wie jeder andere werden würde. Als die Kollegen auf der Dienststelle eintrafen, führten sie ihn in mein Büro, in dem ich allerdings noch nicht war. Einer blieb bei ihm, der andere berichtete mir, dass er kein Wort gesprochen hat. Wie damals, dachte ich, als ihn Raimund E. bei seiner Dienststelle abgeholt hatte.
Auch der Staatsanwalt war zwischenzeitlich eingetroffen, und in Kürze würde auch der Anwalt kommen. Wobei ich wusste, dass dieser einem Geständnis seines Mandanten nicht im Wege stehen würde, sollte es ihm angebracht erscheinen. Deshalb wollten der Staatsanwalt und ich auch zuerst mit ihm reden.
Wir zeigten dem Rechtsanwalt einige Polaroidfotos von den Leichen. Er erbleichte und schluckte schwer. So etwas hatte er als erfahrener Strafverteidiger bisher ebenso wenig gesehen wie der nicht weniger erfahrene Staatsanwalt. Selbst die erfahrensten Mordermittler, die auf der Dienststelle waren und die Bilder sahen, schüttelten nur den Kopf. Es gibt eben immer wieder Situationen, Perversitäten und Grausamkeiten in diesem Beruf, die man noch nie erlebt hat oder die man nicht für möglich gehalten hätte. Obwohl man meinen müsste, irgendwann könne es nichts mehr geben, was man nicht schon kenne.
Der Anwalt war damit einverstanden, dass ich seinen Mandanten vorab informieren würde, aber nur kurz. Dann wolle er mit ihm reden. Er wusste, was ich vorhatte.
Klaus F. stand auf und gab mir die Hand, so wie immer. Er war blass, und die eisige Stimmung, die im Raum vorhanden war, war regelrecht greifbar. Obwohl er definitiv noch nicht informiert war, ahnte er, dass etwas passiert sein musste. Für mich kam es jetzt darauf an, mich
in den kommenden drei Minuten wie jemand zu geben, der Recht behalten hat, darauf aber nicht stolz ist und sich auch nicht darüber freut. Keine Siegerpose, keine Häme, kein Triumphieren, im Gegenteil. Abgesehen davon, dass dies ohnehin nie meine Art war, musste ich mich auch nicht verstellen, nicht schauspielern oder irgendetwas vortäuschen. Denn ich war noch fix und fertig von dem, was ich in der Nacht gesehen hatte. Und der Gedanke, dass dies das Werk eines Polizisten gewesen sein soll, machte mir ehrlich zu schaffen. Es mag komisch klingen, aber ich habe mich irgendwie sogar geschämt. Vor unserem Staatsanwalt, von dem ich wusste, dass er uns Polizisten sehr
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