Abgrund der Lust
ausgebeulten Wollstrümpfe und der an den Knöcheln reibenden Stiefeletten stärker bewusst als ihres Atems.
Sie zwang sich, an nichts zu denken.
Hitze leckte ihre Haut, während sein kalter Blick über ihren Körper schweifte. Schultern. Brüste. Die Seidenunterhose über dem Scheitelpunkt ihrer Schenkel.
Zurück zu ihren Schultern, ihren Brüsten.
Sein Blick ruhte auf ihren Brustwarzen.
Sie waren tatsächlich hart.
Von der Kälte, sagte sie sich. Und wusste, dass sie schon wieder log.
Victoria wollte die Hände eines Mannes auf ihrem Körper spüren.
Sie wollte die Hände dieses Mannes auf ihrem Körper spüren.
Sie wollte ein für alle Mal der Jungfräulichkeit ein Ende bereiten, die zugleich der kostbare Besitz einer Frau und das Werkzeug ihres Sündenfalles war.
Zielstrebig griff Victoria nach dem Bund ihrer verschlissenen Seidenhose. Auch sie verlor sich im Faltenkreis ihres Wollkleides. Auf ihrem nackten Hinterteil breitete sich eine Gänsehaut aus.
Sie brauchte seinem Blick nicht erst zu folgen, um zu wissen, wohin er starrte: auf das Haar zwischen ihren Schenkeln, das so kraus wie ihr Kopfhaar glatt war.
Hitze folgte der Bahn seines Blickes.
Kein Mann hatte Victoria je nackt gesehen. Dieser Mann hatte sicher schon Hunderte nackter Frauen gesehen. Frauen mit weicher Haut und vollen, geschmeidigen Hüften. Frauen, deren Rippen nicht vorstachen wie Fischbein in einem Korsett. Frauen, die wussten, was sie von einem Mann wie ihm zu erwarten hatten.
Hastig beugte Victoria sich vor, um das provisorische Strumpfband an ihrem rechten Schenkel mit gewölbtem Rücken und baumelnden Brüsten aufzubinden.
»Stellen Sie sich hin.«
Der barsche Befehl ließ sie hochfahren. Leichte Farbe trat in die Wangen des Mannes. Sie machte die scharf geschnittene Perfektion seines Gesichts härter statt weicher.
Die Luft um ihn herum pulsierte. Vielleicht pulsierten aber auch die Venen in Victorias Augen.
Der Mann mit den silbergrauen Augen und dem silberblonden Haar war nicht so distanziert, wie er vorgab.
Sie war nicht so distanziert, wie sie vorgab.
»Treten Sie aus Ihren Kleidern heraus.«
Victorias Magen schlug Purzelbäume, als sie linkisch aus ihrer Unterhose und ihrem Kleid trat. Die Doppelschnur, die ihre Strümpfe hielt, schnitt in ihre Haut, als sie das rechte Knie beugte, dann das linke. Ihr Fuß versank im Moor des braunen Plüschteppichs.
»Lassen Sie Ihr Haar herunter.«
Sein Ton war immer noch barsch, seine Sprache aber nicht mehr so gepflegt. Englisch mit einer Spur Französisch.
Victorias Brüste pochten im Takt zu ihrem Herzklopfen. Flüchtig fragte sie sich, ob er ihren Herzschlag sehen konnte.
Sie hob die Arme und suchte mit geschärften Sinnen, vorgereckter Brust und straffem Bauch eine Haarnadel …
»Drehen Sie sich um.«
Victoria hielt inne, ihr Herz pochte, pochte. »Verzeihung?«
»Drehen Sie mir den Rücken zu und machen Sie Ihr Haar los.«
Wenn sie ihm den Rücken zuwandte, konnte sie sich nicht schützen.
Vor sechs Monaten hatte sie sich, eingeschnürt in ein Korsett und hinter ihrer Tugend verschanzt, nicht zu schützen vermocht. Victoria drehte sich um.
Ein blassblauer Lederdivan beherrschte die gegenüberliegende Wand. Darüber verschlang ein blaues Meer einen glutroten Sonnenuntergang. Vage erkannte Victoria in dem Gemälde die Schule der Impressionisten, der Schöpfer tanzenden Lichts und schimmernder Farben.
Sorgfältig entfernte sie die Haarnadeln; der Blick des Manneshinter ihr war eine spürbare Berührung. Auf ihren Pobacken. Auf ihrem Nacken. Ihren Schultern. Zurück zu ihrem Hinterteil.
Auf dem Gemälde beugte sich ein schemenhafter Mann über ein kleines Boot; er ruderte über welliges Wasser einer untergehenden Sonne entgegen. Niemand würde je seinen Namen erfahren. Vielleicht hatte er keinen Namen. Vielleicht war er eine Ausgeburt der Fantasie des Künstlers. Ein Mann, der außerhalb des Gemäldes kein Leben besaß.
Unverständliche Gefühle wallten in Victoria auf: Demütigung, Erregung; Wut, Angst.
Ihr Haar fiel auf ihren Rücken; eine dicke, schwere Decke, die ihre Nacktheit verbarg und das Tal zwischen ihren Pobacken kitzelte. Es hielt die kommende Wirklichkeit nicht auf.
»Drehen Sie sich zu mir um.«
Haarnadeln stachen Victoria in die rechte Handfläche, als sie sich langsam umdrehte. Die Wärme des Zimmers spiegelte sich nicht in den Augen, die sie musterten.
Das war es, dachte sie – das war der Augenblick, in dem sie den letzten Rest ihrer
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