Abgrund der Lust
Gefühle. Von Prostituierten erwartete man ebenso wenig wie von Gouvernanten, dass sie Gefühle besaßen, geschweige denn sie äußerten. Victoria, die früher eine Dame, dann Gouvernante und nun praktisch eine Prostituierte war, besaß jedoch Gefühle. Aber sie wollte sie nicht besitzen.
»Sie finden sich nicht schön?«, fragte er leichthin mit bohrendem Blick aus silbernen Augen. Sein Gesicht, von einem kurzen weißen Kragen mit passender Fliege gerahmt, seine Finger, von silbern geädertem schwarzem Marmor gerahmt, waren von erlesener Eleganz.
»Nein«, sagte Victoria verkrampft. Aufrichtig.
Frauen verpfändeten ihr Leben an ihre Eltern, Ehemänner und Kinder. Unterwerfung hatte nichts mit Schönheit zu tun.
»Und dennoch glauben Sie, Sie seien zweitausend Pfund wert.«
»Ich habe einhundertfünf Pfund verlangt«, entgegnete sie. »Sie haben zweitausend geboten.«
»Geld ist Ihnen wichtig«, bohrte er.
Victoria biss die Zähne zusammen. »Für Geld bekommt man Kohlen. Essen. Ein Dach über dem Kopf. Ja, Geld ist mir wichtig wie uns allen.«
Von dem Geld, das er als Stundenmiete für dieses Zimmer bezahlt hatte, hätte sie einige Wochen bequem leben können.
»Und was genau wären Sie bereit für Geld zu tun, Mademoiselle?«
Ein kalter Schauer lief Victoria über den Rücken, gefolgt von einer Hitzewelle.
Fragte er sie, welche körperlichen Gefälligkeiten sie ihm erweisen würde?
»Ich tue alles, was Sie wünschen.«
»Sie würden zulassen, dass ich Ihnen wehtue.«
Es war keine Frage.
Ihr Herz stockte, bevor es zu rasen begann. »Ich würde es vorziehen, wenn Sie es nicht täten.«
»Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?«
Zorn brannte in Victoria.
Er spielte mit ihr. Nur weil er es konnte .
»Ich bin nicht hier, um mich mit Ihnen über meinen Appetit zu unterhalten, Sir.«
»Aber Sie haben doch Hunger.«
Ihr Magen knurrte zustimmend.
»Nein«, log Victoria. »Ich habe keinen Hunger«
»Aber Sie wissen, wie es ist, zu hungern.«
Diesem Mann, der jeden weiblichen Instinkt ansprach, den sie je zu unterdrücken versucht hatte, würde sie keine Schwäche eingestehen.
»Ich habe gelegentlich eine Mahlzeit ausgelassen, ja.«
Die letzte Kruste eines kleinen Brotes hatte Victoria vor drei Tagen aufgegessen.
»Würden Sie für Geld töten, Mademoiselle?«
Manchmal töteten und beraubten Straßenmädchen die Freier, die sie bedienten. Hielt er sie für eine Straßendirne? Ein rissiger Fingernagel grub sich in ihre Handfläche. »Ich mag mich zwarheute Nacht prostituieren, Sir, aber ich bin weder eine Diebin noch eine Mörderin. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben.«
»Sie haben bisher noch nie einen Mann getötet?«, fragte er nach.
»Nein«, erklärte sie bestimmt. Aber Victoria hatte schon den Wunsch danach verspürt.
Als sie ihre mageren Ersparnisse von Tag zu Tag schwinden sah, hatte sie dem Mann, der dafür verantwortlich war, ebenso Leid zufügen wollen, wie er sie leiden machte.
»Würden Sie mich anbetteln, Mademoiselle?«
Die Kälte, die Victorias Rückgrat erstarren ließ, nistete sich in ihrer Brust ein.
»Nein«, sagte sie laut und deutlich. Entschieden. Hielt seinem Blick stand. »Nein, ich werde Sie nicht anbetteln.« Sie würde keinen Mann anbetteln.
Ein brennendes Holzscheit sackte im Kamin in sich zusammen. Funken sprühten.
»Ziehen Sie sich aus.«
Victorias Magen knurrte als verräterische Mahnung an ihre Sterblichkeit.
Wenn er sie nahm, könnte sie sterben.
Wenn er sie nicht nahm, würde sie mit Sicherheit sterben.
Vor Kälte. Vor Hunger.
Vielleicht würde man sie ihres Umhangs oder der Schuhe wegen töten, damit jemand anderes auf den Londoner Straßen eine Nacht, eine Woche, einen Monat überleben konnte.
Als stünde Victoria neben sich, hob sie die Hände an ihr Mieder. Sie sah sich durch silberne Augen.
Rote, rissige Finger öffneten einen Knopf, zwei, drei … Bleiche Haut schimmerte durch den breiter werdenden Spalt des Wollmieders. Der Halsansatz … das Tal zwischen ihren Brüsten … die nach innen, statt nach außen gewölbte Rundung ihres Bauches …
Victoria atmete tief durch und zuckte die Achseln. Raue Wolle rieselte über ihren Rücken, ihre Hüften und sackte zu ihren Füßen in sich zusammen.
Es gab kein Hemd, keine Unterröcke, hinter denen sie sich hätteverstecken können. Auch sie hatte sie auf der St. Giles Street verkauft.
Sie straffte die Schultern und war sich der sackigen Seidenunterhose um ihre Hüften, der an den Knien
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