Abgrund der Lust
sie jagte Victoria genauso viel Angst ein wie der Mann mit den silbernen Augen.
»Ich versichere Ihnen, Mademoiselle, Ihre Schuhe werden nicht im Weg sein«, sagte er kryptisch.
Der dicke Teppich saugte Victorias Füße auf; sie watete mit vorgeschobenem Becken vorwärts. Ihre Schenkel rieben aneinander; die Reibung, die auf ihren geschwollenen unteren Lippen tanzte, funkelte in seinen Augen.
Er wusste um das Verlangen, das seine Schönheit schürte, sagten diese Augen. Er wusste um die Feuchtigkeit, die aus ihrem Schoß sickerte, und um die Hitze, die auf ihren Knospen perlte.
Nach der kurzen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, wusste er mehr über Victoria als jeder andere Mensch, den sie je gekannt hatte.
Victorias linker Absatz knickte um. Mit pendelndem Haar und vor Verlegenheit brennendem Gesicht fing sie sich. Der Mann mit den silbernen Augen ließ weder Zustimmung noch Spott erkennen, Fleisch gewordener Marmor. Er drehte sich in seinem Sessel, Holz knackte, er verfolgte ihr Kommen mit undurchdringlicher Miene. Victoria blieb stehen, eingeklemmt zwischen seinem Körper und dem Schreibtisch. Hinter ihr knisterte das Holzfeuer emsig, unbeeindruckt vom bevorstehenden Verlust weiblicher Unschuld.
Er roch nach teurer Seife; darunter nahm sie das schwache Aroma von Tabak und Parfüm wahr, das den Salon unten durchdrungen hatte. Sein Kopf war auf einer Höhe mit ihrer Brust; ihre Schuhspitzen waren nur wenige Finger breit entfernt von den Spitzen seiner Lacklederschuhe.
Die räumliche Überlegenheit war kein Vorteil. Victoria zweifelte keinen Moment daran, wer der Stärkere war. Der Schnellere. Der Gefährlichere.
Er starrte lange auf ihre Brüste, auf ihre Brustwarze, die durch ihre über der rechten Schulter hängende Haarmähne lugte.
Seine Wimpern waren lang. Dicht. Dunkel wie Ruß. Sie warfen dunkle, fiedrige Schatten auf seine bleiche, makellose Haut. Nur war er jetzt nicht mehr so blass. Dunkles Rosa ließ seine hohen Wangenknochen hervortreten.
Victoria spürte, wie ihre Knospen sich unter seinem Blick verhärteten, wuchsen.
Langsam hob er die Wimpern. Seine Augen nagelten sie fest.
»Ich will nicht begehren …« flüsterte sie vehement und fühlte sich unsagbar verletzlich.
Sie hatte nie begehren wollen … die Berührung eines Mannes, die Küsse eines Mannes, die Leidenschaft eines Mannes …
Seine nadeldünnen Pupillen weiteten sich, Silber verwandelte sich in Schwarz. »Begierde ist ein Teil von uns allen, Mademoiselle.«
Victorias Kehle schnürte sich unerklärlich zu. »Sie scheinen nicht … heimgesucht zu werden … von diesen Begierden.«
Bedauern huschte über seine Miene, wurde von seinen schwarzen Pupillen geschluckt. »Manche halten Begierde nicht für eine Heimsuchung.«
Er schon, das spürte Victoria auf Anhieb.
Dieser Mann kämpfte gegen seine Begierden ebenso an wie sie gegen die ihren. Angst vor dem Verlangen, aber außer Stande, die Angst oder die Begierde zu unterbinden.
»Sind Sie deshalb heute Abend in das Haus Gabriel gekommen … um eine Frau zu finden, die ihre Bedürfnisse nicht verleugnet?«, fragte sie zögernd.
Tief in ihrem Schoß pochte es, ein Mal, zwei Mal, drei Mal …
»Wie weit wollen Sie dieses Spiel treiben, Mademoiselle?«, fragte er seltsam barsch.
»Es ist kein Spiel, wenn eine Frau einem Mann ihre Jungfräulichkeit gibt«, antwortete Victoria aufgewühlt.
»Was ist, wenn ich mehr will als Ihre Jungfräulichkeit?«
Wehende Härchen bildeten eine silberne Aureole um seinen Kopf.
Ihr fiel ein, wo sie diesen Mann schon gesehen hatte: Sein Ebenbild hatte sie in Kirchenfenstern gesehen. Er hatte das Gesicht eines Engels.
Ein Engel, der mit einer Hand Erlösung, mit der anderen Zerstörung brachte.
Tränen brannten in ihren Augen. »Mehr habe ich nicht.«
»Sie haben Männer mit Frauen gesehen.«
Die Bilder, die Victoria in den letzten sechs Monaten gesehen hatte – von hastigen Paarungen und unverhohlenem Betasten –, spiegelten sich in ihren Augen.
»Ja.«
Es gab nichts, was sie in diesen letzten sechs Monaten nicht gesehen hätte.
»Dann wissen Sie ja, dass es viele Arten gibt, wie Männer Frauen begehren.«
Hitze und Kälte jagten über Victorias Rücken. Das war wahrhaftig eine offene Sprache.
»Ja.«
»Haben Sie je einen Mann in Ihren Mund genommen, Mademoiselle?«
Der warme Atem auf ihrer Haut fühlte sich mit einem Mal eiskalt an gegen die sengende Hitze, die ihr über Hals und Brust nach unten kroch.
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