Abgrund der Lust
ebenso an wie gegen sein Verlangen nach einer Frau.
»Gabriel könnte sterben. Wenn nicht heute, dann morgen.«
Ebenso wie sie sterben könnte. Wenn nicht heute, dann morgen.
Sie könnte durch die Hand des Mannes sterben, der Gabriel töten wollte. Oder sie könnte durch die Hand des Mannes sterben, der die Briefe geschrieben hatte.
Der Wächter antwortete nicht.
»Man nennt ihn den unberührbaren Engel«, sagte Victoria verzweifelt.
Smaragdgrüne Augen ließen Victoria erstarren. »Wir Bediensteten im Haus Gabriel wissen, was Mr. Gabriel ist.«
Und würden nicht mit Außenstehenden darüber reden.
Victoria empfand die Zurückweisung bis in ihre Schuhsohlen.
»Ich finde, er hat es verdient, geliebt zu werden«, sagte Victoria leise und verbarg ihren Schmerz. Sie beide hatten es verdient geliebt zu werden, bevor es zu spät war. »Ich möchte ihn gern lieben. Ich möchte gern, dass Sie mir helfen.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Ma'am.« Die smaragdgrünen Augen flackerten. »Ich würde meine Stellung verlieren.«
Aber er wollte ihr helfen.
Er wollte, dass Gabriel Liebe fand.
Sie alle wollten, dass Gabriel Liebe fand.
»Niemand braucht je davon zu erfahren außer Ihnen und mir«, versicherte Victoria ihm.
»In diesem Haus gibt es keine Geheimnisse, Ma'am.«
»In jedem Haus gibt es Geheimnisse«, verbesserte sie ihn.
Im Haus ihres Vaters, eine Mannes von untadeligem Ruf, hatte es Geheimnisse gegeben.
»Ich habe keinen Schlüssel zu Mr. Gabriels Suite; wenn wir gehen, können Sie nicht wieder hinein.«
Hoffnung wallte in Victoria hoch. »Sicher hat noch jemand außer Gabriel einen Schlüssel.«
»Mr. Gaston hat einen.«
Victoria raffte den Rock ihres Seidenkleides. »Ich werde Mr. Gaston erklären, warum wir uns seinen Schlüssel ausleihen müssen.«
Der Wächter wirkte nun nicht mehr stoisch, sondern als säße er in einer Falle. Hin und her gerissen zwischen der Loyalität, seinen Anweisungen zu folgen und die Tür zu bewachen, und seinem Wunsch, seinem Herrn ein bisschen Glück zu verschaffen.
Ebenso plötzlich wie sich sein Gesicht umwölkt hatte, hellte es sich wieder auf. »Folgen Sie mir.«
Victoria strahlte.
Flüchtig spiegelte sich ihr Lächeln in den smaragdgrünen Augen des Wächters, dann drehte er sich um und stapfte die hell erleuchtete,schmale Treppe hinunter. Am Fuß der Treppe blieb er stehen, die Hand am Messingtürknauf.
Die Tür führte in den Saal. Ein Dienstmädchen beugte sich über einen Tisch mit weißer Seidentischdecke und steckte eine Bienenwachskerze in den silbernen Kerzenständer. Ihr grau meliertes Haar steckte in einem Haarnetz. Als sie Victoria sah, hielt sie inne.
Victoria bezweifelte nicht, dass das Dienstmädchen wusste, wer sie war.
Das Dienstmädchen lächelte, wobei ihr Gesicht sich in herzliche Falten legte. »N'Abend, Ma'am. Jules.«
Sie sprach mit breitem Cockney-Akzent.
Der Wächter nickte. »N'Abend, Mira.« Hastig schob er Victoria zu der Treppe mit rotem Plüschläufer an der gegenüberliegenden Wand.
Die weiß lackierten Türen, die von dem Flur im ersten Stock abgingen, waren vom Saal aus deutlich zu sehen. Ein Dienstmädchen mit großer Morgenhaube schob einen Holzwagen voller Leinen und Putzgerätschaften über den Flur im ersten Stock; das Geländer warf Streifen auf sie.
Langsam ging Victoria die Treppe hinauf, warf einen Blick hinunter auf die Tischreihen mit weißen Seidentischdecken, verdrehte den Kopf, um die dunkel schimmernde Loge zu sehen, von der aus Gabriel sie beobachtet und ersteigert hatte.
Victoria hatte gelernt, dass Sünde hässlich sei; das Haus Gabriel war jedoch ebenso schön und elegant wie sein Besitzer.
Der elektrische Kronleuchter über der Treppe funkelte von Tausenden winziger Kristalle.
Sie hatte geglaubt, die Oper sei das einzige öffentliche Gebäude mit elektrischer Beleuchtung; sie hatte sich geirrt. Das Haus Gabriel war vollständig elektrisch beleuchtet – die Kronleuchter, die Wandlampen – alles, bis auf die von Kerzen erhellten Tische im Saal.
Ein dicker roter Läufer lag auf dem L-förmigen Flur im Obergeschoss. Am Ende des Ganges, der nach rechts abbog, führte eine Wendeltreppe in den zweiten Stock, ebenfalls von einemKronleuchter erhellt. Der Wächter öffnete die lackierte Tür, die der Treppe in den Saal am nächsten lag; eine vergoldete Sieben prangte darauf.
Das Schlafzimmer war mit einem dunkelgrünen Teppich ausgelegt, auf dem Bett lag eine gelbe Seidendecke. Fenster gab es
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