Abgrund der Lust
Victoria bestimmt.
»Ja, Ma'am.«
Das Wissen, was einer schutzlosen Frau zugestoßen war, drängte sich beiden auf.
Victoria schob entschlossen das Bild der blutroten Handschuhe beiseite.
Sie hob herausfordernd das Kinn. »Wie lauten Ihre Anweisungen, Sir, diese Tür zu bewachen oder mich?«
»Beides«, sagte der Wächter mit dem kastanienbraunen Haar ausdruckslos.
In seinen smaragdgrünen Augen lauerte die Straße.
Familie, hatte Gaston gesagt.
Huren. Diebe. Mörder.
Die beiden letzten Tätigkeiten hatte Victoria zwar nicht ausgeübt, wohl aber das erste Gewerbe.
»Wie heißen Sie?«, erkundigte sie sich höflich.
Der Wächter zuckte nicht mit der Wimper über Victorias Frage. »Julien, Ma'am.«
»Sind Gäste unten?«
»Nein, Ma'am. Das Haus Gabriel öffnet nicht vor neun Uhr.«
Victoria rechnete sich aus, dass Gabriels Haus erst drei Stunden geöffnet hatte, als er ihre Jungfräulichkeit ersteigerte.
»Monsieur Gaston sagte, Sie gehören zur Familie«, sagte Victoria impulsiv.
Der Wächter zwinkerte. Sie hatte ihn überrascht.
»Ja, Ma'am«, sagte er in einem Ton, der nichts besagte.
»Meine Familie und ich haben uns … entfremdet. Sie haben großes Glück, von Menschen umgeben zu sein, denen an Ihnen liegt.«
Die smaragdgrünen Augen blieben distanziert. »Ich kann Sie nicht aus dem Zimmer lassen, Ma'am.«
»Vertrauen Sie Ihrer Familie nicht, Sir?«
Victoria hatte ihrer Familie vertraut – früher einmal.
»Doch, Ma'am«, sagte der Wächter zögernd. »Ich vertraue ihr.«
Victoria hakte nach. »Dann besteht ja keine Gefahr, wenn ich diese Suite verlasse, oder?«
»Das zu entscheiden liegt nicht bei mir, Ma'am.«
Victoria warf einen verstohlenen Blick auf seine Schulter. Offen trug er keine Waffe. Er musste sie wohl in einem Schulterholster unter seinem Rock tragen wie Gabriel.
Er würde sie nicht erschießen; aber sie war sicher, dass er sie aufhalten konnte. Sie erinnerte sich an die Stärke des Mannes, der sie auf der Straße überfallen hatte.
»Ich bin mir bewusst, dass ich in Gefahr bin, Sir.«
Der Wächter verzog weiterhin keine Miene. »Ja, Ma'am.«
»Ich möchte mich nicht noch weiter gefährden.«
»Nein, Ma'am.«
Victoria hatte mehr Erfolg gehabt, widerspenstige Kinder zum lernen zu bewegen, als sie bei diesem Mann hatte, den Gabriel als Wache abgestellt hatte.
»Sie wissen, dass Gabriel meine Jungfräulichkeit gekauft hat.«
Da er im Haus Gabriel arbeitete, war es undenkbar, dass er es nicht wusste.
Die Verlegenheit, die auf Victorias Wangen brannte, spiegelte sich nicht in der Miene des Wächters wider. »Ich habe Anweisung, Sie zu bewachen, Ma'am, und das werde ich tun.«
Das elektrische Licht prallte von oben auf Victorias Kopf. »Ich möchte Gabriel kennen lernen.«
»Sie werden Mr. Gabriel nicht durch dieses Haus kennen lernen.«
Wie lange schien es schon her, seit Victoria Monsieur Gaston über die schmale Treppe hinter dem Wächter gefolgt war.
»Sie irren sich, Sir. Alles im Haus Gabriel ist Teil des Mannes, der es erbaut hat.«
Victoria hatte die volle Aufmerksamkeit des Wächters erlangt.
»Ich möchte Gabriel erfreuen«, sagte Victoria ruhig. »Ich würdegern die … die Gästeschlafzimmer besuchen, um zu sehen, mit welchen Mitteln andere Frauen Männern Freude bereiten.«
Gegenstände, die sie durch die transparenten Spiegel vielleicht noch nicht bemerkt hatte.
Das Grinsen, das sie auf dem Gesicht des Wächters erwartet hatte, blieb aus.
Ein Gefühl flackerte in den smaragdgrünen Augen auf; verlosch. »Vielleicht sind es keine künstlichen Hilfsmittel, die Mr. Gabriel braucht, Ma'am.«
»Ich werde alle Mittel verwenden, die zur Verfügung stehen«, sagte sie wahrheitsgemäß.
Der Wächter schaute über ihre Schulter.
Victoria bezwang ihren Ärger. Sie durfte einen Bediensteten seiner Loyalität wegen nicht verurteilen.
»Wie lange stehen Sie schon in Gabriels Diensten?«, fragte sie höflich.
Er schaute sie nicht an. »Sechs Jahre.«
Während Gaston seit vierzehn Jahren bei ihm war.
»Jemand will ihn töten.«
Der Blick des Wächters huschte zurück zu Victoria. »Im Haus Gabriel wird niemand ihm etwas tun.« Tödliche Entschlossenheit lag in seinem Ton. »Wir werden ihn schützen.«
Familie .
»Aber er ist jetzt nicht im Haus Gabriel.«
»Nein.« Der Ärger, den Victoria eben empfunden hatte, spiegelte sich nun in den smaragdgrünen Augen des Wächters wider.
Gabriel kämpfte gegen die Liebe, die seine Familie für ihn empfand,
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