Abgrund der Lust
Wand.
Ein scharfer Schmerz durchschnitt Victorias Wange und barst in ihrem Kopf; »Michael!«, dröhnte es in ihren Ohren, Gabriels Schrei.
Er war voller Schmerz. Angst. Wut.
Verzweiflung.
Michael drehte sich um, die rechte Hand erhoben; ein Revolver ragte aus seinen mit wutroten Narben bedeckten Fingern.
Der zweite Mann war nicht auf Michael vorbereitet. Wie in einem Reflex hob er seinen Revolver.
Victoria stolperte, fiel nach vorn in ein Gewirr aus Seide, streckte unwillkürlich die gefesselten Hände vor, um sich abzufangen.
Wie ein Dominostein taumelte der zweite Mann rückwärts über den Schreibtisch, schwarze Frackschöße wehten; sein Fall wurde unterstrichen vom lauten Knall aus Michaels Waffe.
Michael machte einen Satz nach vorn, als habe ihn jemand in die Brust getreten. Ein zweiter Schuss zerriss Gabriels Welt.
Victoria sah die blutrote Rose auf der weißen Weste des Mannes aufblühen, der als Michel des Anges bekannt war.
Wie in einer Laterna magica gefangen, die ein Bild nach dem anderen zeigte, stand Victoria von dem braunen Teppich auf.
Auch Gabriel war in der Laterna magica gefangen. Er lief, setzte einen Fuß vor den anderen, schleppte einen Fuß nach dem anderen durch den Plüschsumpf, der Victorias Körper ansaugte. Und dann fing er Michael auf. Hielt Michael. Fiel unter Michaels Gewicht. Rief Michaels Namen, während hellrotes Blut Michaels weiße Seidenweste und Hemd färbte.
Michael antwortete nicht.
Wut überfiel Victoria.
So durfte es nicht enden. Sie würde nicht zulassen, dass es so endete .
Victoria kämpfte mit Seide, immer mehr Seide, um aufzustehen. Ihre gefesselten Hände wollten sich nicht drehen. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, das Kinn gegen das linke Handgelenk gepresst, zerrte sie den Seidenschal aus ihrem Mund. Es war keine Zeit, den Speichelfluss zu genießen, der das Brennen in ihrem Mund linderte. Das Blut, das über ihre Wange tropfte, erinnerte sie lebhaft daran, was immer noch passieren konnte, falls der Mann – Yves – noch lebte.
Victoria sprang um den Schreibtisch. In der Schublade, die er vorher aufgebrochen hatte, lag Gabriels Derringer.
Sie würde ihn töten. Wenn er noch nicht tot war, würde sie ihn töten.
Sie würde ihn töten um der Liebe willen, die Michael einem silberblonden Engel entgegengebracht hatte.
Sie würde ihn töten um des Kummers willen, der Gabriel niedergestreckt und allen die Luft zu atmen geraubt hatte.
Mit zitternden Händen richtete Victoria den kurzen Lauf der Derringer auf den Mann am Boden.
Glasige violettblaue Augen starrten an die Decke. Eine dünne blutrote Linie sickerte aus der Nase, die sie gebrochen hatte.
Er war tot.
Und Gabriel … Gabriel wiegte Michael in den Armen, silberblondes Haar vermengte sich mit schwarzem. Er wiegte Michael in einer stummen Litanei der Trauer.
Victoria ließ die Derringer fallen. »Gabriel«, krächzte sie.
Er hörte sie nicht.
Yves hatte den innersten Kern aufbrechen wollen, der es Gabriel ermöglicht hatte, Armut, Prostitution und Vergewaltigung zu überleben: Es war ihm gelungen.
Victoria kniete sich neben Gabriel.
Michaels Gesicht war bleich unter dem olivbraunen Teint seiner Haut, die wulstigen Narben auf seiner rechten Wange waren schlaff. Victoria streckte die Hand aus, wollte Gabriel halten, Gabriel lieben, Gabriel trösten. »Gabriel …«
Eine blutrote Fontäne fiel ihr ins Auge. Blut pulsierte aus Michaels Brust.
Victoria, die Gouvernante, begriff.
Blut pulsierte nicht aus einer Leiche. Pulsierendes Blut bedurfte eines pulsierenden Herzens.
»Er lebt, Gabriel!« Victoria packte Gabriels Hand und drückte sie auf Michaels Brust, um die Blutung zu stillen. »Gabriel, hilf mir.«
Heißes Blut sprudelte durch ihre Finger.
Gabriel hob den Kopf, während sein Leben durch seine und Victorias Finger rann; seine Augen waren schwarz vor Entsetzen.
»Nicht«, sagte er tonlos mit distanzierter Stimme und toten Augen. »Lass mich ihn halten.«
Victoria würde nicht um einen Engel weinen. Nicht jetzt.
»Halte deine Hand auf seine Brust, Gabriel«, sagte sie wütend. »Er lebt. Wenn du die Hand fortnimmst, stirbt er. Jetzt halte deine verdammte Scheißhand dahin!«
Der Straßenjargon wirkte.
Gabriels silberne Augen richteten sich auf Victoria … auf Michael. Auf das Blut, das durch ihre Finger sprudelte.
Auf Leben, statt auf Tod.
»Ich hole einen Arzt«, sagte sie.
Die Tür ließ sich nicht öffnen.
Victoria stemmte sich mit einer Kraft dagegen,
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