Abgrund der Lust
sagen, dass er in Yves violettblaue Augen – Michaels Augen – geschaut hatte und dazu gebracht worden war, Begierde zu empfinden.
Und Gabriel hatte nichts dagegen tun können.
»Ich will, dass du Michael sagst, dass du den Namen eines Engels gestohlen hast.«
Blind starrte Gabriel in violettblaue Augen mit schwarzen Wimpern.
»Ich will, dass du Michael sagst, wessen Namen du geschrien hast, als du kamst, Gabriel.«
Gabriel erinnerte sich … wie er um die Unschuld geweint hatte, die er kurz besessen hatte, als Michael den Laib Brot mit ihm geteilt hatte.
Eine raue Stimme sagte heiser: »Nicht.«
In diesem einen Wort verriet Michael das Wissen und den Schmerz, den Gabriel fast fünfzehn Jahre vor ihm zu verbergen gesucht hatte.
Violettblaue Augen musterten violettblaue Augen. »Du liebst Gabriel, Michael.«
Michael zuckte nicht vor dem anzüglichen Unterton zurück, Gabriel schon. »Ich habe ihn immer geliebt.«
»Gabriel hat für dich meinen Vater getötet, Michael.« Silbernes Licht glänzte auf dem gezähnten Bowiemesser; blaues Licht schimmerte auf dem Haar des zweiten Mannes. »Was würdest du für ihn tun?«
In Michaels Augen oder Stimme war keinerlei Falschheit. »Ich würde alles für Gabriel tun.«
»Würdest du ihn küssen, Michael?«
»Ja.«
»Würdest du seinen Schwanz lutschen?«
Michael zögerte nicht. »Um ihn zu retten, ja.«
»Küss ihn, Michael, wie ein Liebhaber, dann lasse ich die Frau leben. Lutsche seinen Schwanz, dann lasse ich euch alle leben.«
Die Zeit blieb stehen: Gabriels Atem. Das Knistern der Flammen im Kamin.
Endlich begriff Gabriel.
… Jetzt bringe ich dir eine Frau. Eine Hauptdarstellerin, wenn du willst .
Laissez le jeu commencer .
Lasst das Spiel beginnen.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit, Gabriel.«
Gabriel wusste, was der Mann, der sich Yves nannte, sagen würde.
»Sag mir, ich soll Mademoiselle Childers töten, dann lasse ichMichael leben«, sagte der zweite Mann gelassen. Tod funkelte in seinen violettblauen Augen. »Oder sag mir, ich soll Michael töten, dann lasse ich Mademoiselle Childers leben.«
Gabriel hatte nicht gewusst, dass er eine Seele besaß; jetzt wusste er es. »Warum?«, brach es tief aus ihm heraus.
»Warum?«, fragte der zweite Mann spöttisch. »Mein Vater hat 1849 eine algerische Hure gefickt. Neunzehn Jahre später sprach mich ein Mann in einem Bordell an und fragte, ob ich nach England fahren und meinen Vater kennen lernen möchte.«
Michael und Gabriel waren 1868 nach England gekommen.
»Er sagte, mein Vater brauche mich.« Der blau plattierte Revolverlauf wurde schlagartig gefährlich ruhig. »Er sagte, mein Vater sei reich. Er sagte, mein Vater würde mich reich machen.
Ich kam nach England. Ich stellte fest, dass er immer von meiner Existenz gewusst hatte. Angeblich hatte er mich kommen lassen, weil ein Agent ihm berichtet hatte, ich sähe ihm ähnlich. Ich wusste nicht, dass du existierst, Michael; ich wusste nicht, dass mein Vater mich geholt hatte, weil ich aussah wie du. Ich lernte Englisch. Ich lernte, mich wie ein Gentleman zu benehmen. Ich lernte, wie du zu sein, Michael. Damit ich dich besser vernichten konnte. Ganz allmählich. Systematisch.
Doch als ich les deux anges sah, die beiden Engel, die in ganz England und Frankreich berühmt waren, war ich von dir, Gabriel, wesentlich mehr fasziniert. Du warst dasselbe wie ich: Ein heimatloser Bettler – obwohl ich wenigstens einen Namen von meiner Hurenmutter bekommen hatte – ein Dieb, ein Mörder, eine Hure. Aber du hattest keine Freude an Reichtum und Sinnenlust, trotzdem strebtest du danach.
Ich fragte mich, warum.
In Frankreich machte ich Frauen ausfindig, die du bedient hattest, Michael. Ich lernte zu küssen, wie du küsst. Ich lernte zu ficken, wie du fickst. Ich lernte das, weil ich sehen wollte, was nötig wäre, um einen blonden Engel zu zerstören. Mein Vater hielt das für einen glänzenden Plan; er dachte, er könnte dich in Zukunft noch brauchen, Gabriel. Er glaubte bis zu seinem Ende, dass es mir gelungen wäre, die – sagen wir, Brüderschaft – zuzerstören, die zwischen zwei Huren gewachsen war. Du hast ihm natürlich bewiesen, dass er sich geirrt hat, nicht wahr, Gabriel? Wie Madame René gesagt hat, manche Bande lassen sich nicht zerstören.
Mein Vater schickte mich mit einer hübschen Abfindung wieder zurück nach Algerien. Sechs Monate später ließ er mich wieder kommen. Du solltest Michael töten, Gabriel, und ich sollte
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