Abgrund der Lust
dass sein Haus in ein Schlachtfeld verwandelt würde, wenn er es verhindern konnte.
John straffte den Rücken. »Ich vertraue hier jedem, Sir.«
Wieder eine Sünde.
Huren konnten sich Vertrauen nicht leisten.
»Vertraust du mir?«, fragte Gabriel leise.
»Ja.«
Letzten Endes hatte auch Victoria Childers ihm vertraut.
Sie hatte sein Essen gegessen und schlief nun in seinem Bett. In dem Glauben, sein Gast zu sein.
Sie war es nicht.
Victoria war ebenso eine Gefangene wie Gabriel.
»Soll ich dir vertrauen?«, fragte Gabriel sanft.
»Ich habe getan, was ich richtig fand«, sagte John gestelzt.
Gabriel musste eine Entscheidung treffen. John und Stephen gehen zu lassen – weil sie getan hatten, was sie für richtig hielten.
Oder sie zu behalten – in dem Wissen, dass ihre Menschlichkeit weiteren Tod bringen würde.
Der zweite Mann könnte sie bestochen haben.
Wenn sie schuldig waren, würde der zweite Mann sie töten.
Wenn sie unschuldig waren, würde Gabriels Entlassung sie töten.
Es wäre ein viel schlimmerer Tod als der, den der zweite Mann ihnen bereiten würde.
Ganz London würde wissen, dass er sie entlassen hatte. Niemand würde Männer einstellen, die der unberührbare Engel verworfen hatte.
John und Stephen würden wieder huren.
Ein wesentlich besseres Los als das, was sie erwartete, wenn Gabriel sie zum Bleiben auffordern sollte.
Niemand hatte ein Recht, von einem Mann zu verlangen, was Gabriel von ihnen verlangen würde.
»Sie haben die Entlassung nicht verdient, Monsieur.«
Gabriel starrte auf das Tischtuch mit den Weinflecken. Das zierliche Profil einer Frau mit gerader Nase, geschwungener Stirn und festem Kinn tauchte auf.
Victoria hielt sich nicht für schön: Aber sie war es.
Nur bei einer Frau hatte Gabriel je ihre Art von Schönheit gesehen, und sie würde bald Michael gehören.
»Sie haben sie gewarnt, dass ein Mann versuchen würde, Monsieur Michael zu töten; Sie haben sie nicht vor einer Frau gewarnt«, protestierte Gaston steif. »John und Stephen führten nichts Böses im Schilde, als sie die Frau heute Abend hereinließen.«
Gabriels Entschluss war gefallen.
Er konnte sich kein Bedauern leisten. Keine Unentschlossenheit.
Kein Mitleid.
Sofort verschwamm Victorias Bild; statt ihres Profils sah er nur noch Weinflecken.
»Wieso glauben Sie, dass mein Vorgehen zu hart war, Gaston?« Gabriel schaute von der Tischdecke auf. »Sie haben meine Anweisungen nicht befolgt. Hätte ich ihren Lohn erhöhen sollen, statt sie zu entlassen?«
»Sie lieben Sie, Monsieur.«
Gedämpfte Geräusche drangen in den Salon, das Scheppern eines Topfes, ein verhaltener Fluch.
Pierre bereitete ein spätes Frühstück zu.
Bald würden die Hausdiener kommen und den Saal aufräumen.
Gabriel wusste, wann und bei welcher Gelegenheit er jeden einzelnen eingestellt hatte.
Er wollte nicht ihre Liebe; er wollte ihre Loyalität.
»Liebe hat einen Preis, Gaston«, sagte Gabriel kühl. »Sie gehört dem, der den höchsten Lohn zahlt.«
Die Liebe einer Hure wechselte mit jedem Freier.
»Die Männer sind unruhig, Monsieur.«
»Ihre Stellung ist sicher, solange sie sich an die Regeln des Hauses halten.«
»Sie dachten, Sie wären vor sechs Monaten gestorben.«
Gabriel erstarrte.
Kein einziges Mal hatten Gaston oder Gabriels Leute über die Geschehnisse von vor sechs Monaten gesprochen.
»Wie sie sehen, bin ich sehr lebendig.«
»Sie haben das Haus niedergebrannt«, erklärte Gaston wie versteinert.
Und dann hatte Gabriel es wiederaufgebaut.
Das Erstere, um einen Engel zu retten; das Letztere, um ein Ungeheuer zu fangen.
»Ich habe sie für alles entschädigt, was sie verloren haben.«
»Es geht nicht um Habseligkeiten, Monsieur.« Die Kerze rechts von Gaston flackerte, verlosch; Gastons rechte Gesichtshälfte verdunkelte sich im Schatten. »Sie haben ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Sie wissen nicht mehr, ob sie Ihnen noch vertrauen können.«
Schwacher Kaffeeduft wehte über den schalen Geruch von Wein und Zigarren.
Huren konnten sich Vertrauen nicht leisten.
Gabriel hatte einmal gedacht, er kenne die Wahrheit; der zweite Mann hatte ihm bewiesen, dass er sich geirrt hatte.
»Wollen Sie sagen, dass ich keinem meiner Bediensteten vertrauen kann, Gaston?«, fragte Gabriel vorsichtig.
Gaston straffte die Schultern. »Niemand in Ihrem Haus würde Sie verraten.«
»Aber Sie haben Monsieur Michel nicht hinausgeworfen, wie ich angewiesen hatte«, sagte Gabriel scharf. »Manche würden
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