Abgrund der Lust
nur mache, um Sie zu töten, wenn Ihre Schreie meine Gäste nicht mehr stören können?«, erwiderte er ruhig.
Victoria schaute unverwandt in seine Augen statt auf das Messer in seiner Hand.
»Ist das so?«, fragte sie gefasst.
»Dies ist ein Freudenhaus, Mademoiselle«, antwortete er sachlich. »Wenn jemand Sie schreien hörte, würde er denken, es läge an den Qualen der Leidenschaft.«
Die Männer auf der Straße grunzten manchmal, wenn sie sich paarten, wie Schweine, die nach Nahrung stöberten; die Straßendirnen ertrugen es stumm.
»Schreien Männer … und Frauen … oft in Ihrem Haus, Sir?«, fragte sie.
»Die Wände sind dazu ausgelegt, die Privatsphäre zu wahren«, erklärte Gabriel höflich, sie bewusst missverstehend. »Sie werden sie nicht hören.«
»Die Männer und Frauen, die sich auf der Straße … paaren – sie schreien nicht vor Leidenschaft«, sagte Victoria unverblümter.
In seinem Blick sah sie seine Vergangenheit: den Hunger. Die Kälte. Die Liebesdienste. Den Überlebenswillen. Gleich um welchen Preis.
Was konnte einen Mann wie ihn dazu bringen zu betteln?
»Die Männer und Frauen auf der Straße paaren sich, wie sie leben, Mademoiselle«, sagte Gabriel gleichgültig. »Sie stehlen ein paar Augenblicke der Lust hier, eine Geldbörse da.«
Und zwischendurch ein Leben.
Victorias Wollkleid bot kein gutes Polster mehr: Ihre Knie schmerzten. Ihre Handflächen waren feucht. Sie rieb sie an ihren Schenkeln trocken. Die Wolle war rau, kratzig.
»Ich kann Ihnen den Namen der Prostituierten nicht geben«, sagte sie.
Victoria konnte Dolly nicht mehr als Freundin bezeichnen, aber sie wollte nicht für den Tod einer anderen Frau verantwortlich sein. Auch sie war ein Opfer der Umstände.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass sie bald tot sein wird, falls sie es nicht schon ist.« Die Messerklinge funkelte in seiner Hand, seinen langen, eleganten Fingern. »Ihr Name wäre nutzlos.«
Victoria wandte den Blick ab.
Seine Augen erwarteten ihre.
Er bat sie nicht um Hilfe. Warum fühlte sie sich genötigt, sie ihm zu anzubieten?
»Der Mann, der die Briefe schrieb …« Victoria leckte mit schnellem Zungenschlag ihre raue Oberlippe. »Er dürfte den Mann nicht kennen, der … Sie missbraucht hat.«
»Woher wissen Sie das, Mademoiselle?«
Victoria ließ sich von Gabriels höflichem Ton nicht täuschen.
»Ich weiß es, weil er Sie nicht kennen dürfte, Sir.«
»Viele Männer kennen mich, Mademoiselle«, sagte Gabriel zynisch.
»Würde er Ihr Haus kennen, würde er nicht Jagd auf die Gouvernante seiner Kinder machen, Sir«, erwiderte Victoria.
Nicht Jagd auf die Gouvernante seiner Kinder machen , hallte esin ihren Ohren wider. Victoria wurde noch blasser, obwohl es kaum möglich schien.
Die silbernen Augen waren hart, kompromisslos. »Sie sind entweder eine Närrin oder eine Lügnerin, Mademoiselle.«
Victoria funkelte ihn wütend an. »Ich kann Ihnen nicht helfen, Sir.«
Wenn sie ihm den Namen des Mannes gäbe, der ihr die Briefe schrieb, würde der Mann mit den silbergrauen Augen und dem silberblonden Haar ihn aufspüren. Victoria wollte nicht, dass Gabriel erfuhr, wer ihr Vater war. Sie wollte nicht, dass er etwas über ihre Vergangenheit erfuhr.
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, wiederholte sie.
»Aber ich kann Ihnen helfen, Mademoiselle«, sagte er seidenweich.
Mit Essen. Einem Dach über dem Kopf. Einer Stellung. Aber um welchen Preis? Tränen brannten in ihren Augen. Tränen der Erschöpfung, sagte sie sich. Und wusste, dass sie schon wieder log.
»Warum wollen Sie mir helfen, obwohl Sie wissen, dass ich Ihnen nicht helfen kann?«, fragte sie ruhig.
Er stand auf, Leder quietschte.
Victorias Augen waren auf einer Höhe mit dem Scheitelpunkt seiner Schenkel. Durch die enge, schwarze Seidenhose war sein Geschlecht nicht zu übersehen.
Sind Sie so kräftig gebaut, Sir?
Ich bringe es auf eine Länge von über neun Zoll .
Victoria warf den Kopf in den Nacken.
Gabriels Augen funkelten.
»Vielleicht weil auch ich einmal behauptet habe, ich würde nicht betteln, Mademoiselle. Vielleicht will ich Ihnen das ersparen.«
In seinen Augen lag zu viel Schmerz. Zu viel Tod.
Hatte er je gelacht, dieser Mann, der in einer Gosse von Calais, Frankreich, geboren war?
»Haben Sie je eine Frau um körperliche Erlösung angebettelt?«, fragte sie impulsiv.
Die Hitze im Schlafzimmer kristallisierte sich.
»Ich bin Gabriel, Mademoiselle. Ich habe Männer bedient, nicht Frauen.«
»Damit
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