Abgrund der Lust
Der dunkle Engel sei Michael, der Auserwählte Gottes. Sie sagte, im Himmel gebe es keinen Hunger und Engel bettelten nicht. Michael und Gabriel seien Gottes Lieblingsengel, sagte sie.«
Dampf quoll aus der Kupfergrotte, ballte sich in Victorias Nase und Brust.
»Als ich Michael in Calais traf, war er ein halb verhungerter Junge mit hungrigen Augen, der nicht betteln wollte und nicht stehlen konnte. Er erinnerte mich an den dunkelhaarigen Engel auf dem Fenster. Ich wollte sein wie er; ich wollte Augen haben, die nach mehr als einer Brotkruste und einem warmen, trockenen Schlafplatz hungerten. Ich wollte ein Engel sein, daher nahm ich den Namen eines Engels an. Als die französische Madame mir die Chance gab, der Armut zu entkommen, ergriff ich sie. Ich würde es wieder tun, wenn ich die Wahl hätte. Mach keinen Fehler, ich bin ein Bastard. Wenn du mich anrührst, tue ich dir weh. Und ich versichere dir, Victoria, ich kann dir auf Arten wehtun, die du dir nie hast träumen lassen.«
Victorias Gefühle lasteten auf ihrer Brust, bis sie vor Beklemmung und Dampf nicht mehr atmen konnte. Angst war deutlich zu erkennen, aber etwas anderes überwog die Angst.
Gabriel litt.
Sie besaß die Macht, seinem Leiden ein Ende zu setzen. Falls sie den Mut aufbrachte.
»Wir tun, was wir tun müssen, um zu überleben«, sagte Victoria ruhig. Hörte das Echo ihrer früheren Worte, ihrer, seiner …
»Tun wir das, Victoria?«, fragte Gabriel ohne Neugier. Wasser strömte über ihn.
»Ja«, sagte Victoria bestimmt. »Das tun wir.«
Sonst hätte sie ihre Jungfräulichkeit nicht im Haus Gabriel versteigert.Und sie wäre nie einem blonden Engel begegnet, der nach Liebe lechzte.
Gabriel wirbelte so schnell herum, dass die Bewegung Victoria den Atem raubte. Wasser prasselte auf seine Lider, lief sein Kinn hinunter, spritzte auf das nasse braunblonde Haar, das seine Brust bedeckte und als Pfeil zu seinen Lenden führte.
Victoria starrte ihn an.
Er war steif. Wasser rann vom prallen Kopf seines steifen Geschlechts.
Die Muskeln in ihrem Schoß ballten sich vor Verlangen zusammen.
Sie hatte Gabriel in der vergangenen Nacht flüchtig gesehen, als er das Kondom übergestreift hatte und mit seiner in Gummi gehüllten Männlichkeit, die aus dem Schlitz seiner grauen Wollhose ragte, auf sie zugekommen war.
Nun sah sie einen schamlos entblößten Mann mit blauen, pulsierenden Venen und allen Farbabstufungen – blasses Fleisch, dunkles, purpurrotes. Zwei straffe, ledrige Beutel schwangen unter einem Büschel vom Wasser dunklen Haares.
Victoria hegte keinerlei Zweifel, dass Gabriel ihr auf unvorstellbare Weise wehtun könnte. Wie man ihm wehgetan hatte.
Wie er weiter leiden würde.
Ihre Entscheidung …
Langsam hob Victoria die Augen.
Durch die sich kräuselnden Dampfschwaden wirkte Gabriels Blick ausdruckslos und kompromisslos. Die Augen eines Jungen, der ein Engel sein wollte, und eines Mannes, der die Verheißung auf das Paradies verloren hatte.
Zum ersten Mal war Victoria froh über die sechs Monate, die sie ohne Essen, Kleidung und letztlich auch Obdach hatte auskommen müssen. Sogar froh, dass ihre Knochen zu scharf hervortraten und ihr Fleisch sich zu straff darüber spannte.
Victoria wusste, wie es war, zu frieren und zu hungern. Sie wusste, wie es war, die Hoffnung auf Liebe gegen Essen und Obdach zu verkaufen.
Madame René hatte gesagt, Verführung bestehe darin, mitWorten nackte Bilder zu malen. Die Vorfreude zu schaffen auf … einen Kuss … eine Liebkosung … eine Umarmung .
»Mein Vater hat Küssen verboten«, sagte Victoria nachdrücklich. »Ich möchte dich küssen.«
Das einzige Geräusch im Bad war das Prasseln von Wasser und Victorias Herzklopfen. Langsam stellte sie mit baumelnden Brüsten den Glastiegel auf die Holzverkleidung der Wanne und hob den Kopf, um Gabriels Blick festzuhalten.
»Mein Vater hat Umarmungen verboten.« Sie richtete sich auf. »Ich möchte deinen Körper mit meinem umarmen.«
Behutsam stieg sie in die Kupferwanne.
»Mein Vater hat Berührungen verboten.« Heißes Wasser netzte ihr Gesicht, leckte ihren rechten Fuß, ihren linken Fuß. »Ich möchte dich berühren, Gabriel.«
Lange konnte Gabriel nicht atmen, gefangen in hungrigen blauen Augen, während heißes Wasser ihm auf Kopf und Schultern prasselte. Es lief seinen Rücken hinunter, seine Brust, seine Lenden, seinen Hintern.
Jeder Zoll seines Körpers schrie eine Warnung. Wenn Victoria ihn berühren sollte …
Kalte
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