Abgrund: Roman (German Edition)
nun ja, faszinierend. Ich …«
»Sie finden ihn abstoßend«, stellt sie mit surrender Stimme richtig. »Das sollten Sie nicht. Das ist doch genau das, was Sie von einem Rifter erwarten, nicht wahr? Haben Sie uns nicht deshalb überhaupt hier heruntergeschickt?«
»Ich weiß, was Sie denken, Lenie«, versucht Scanlon es mit einem scherzhaften Ton. »Sie denken, wir stehen jeden Morgen auf und fragen uns: Wie können wir heute am besten unseren Angestellten das Leben schwer machen? «
Sie blickt auf den Seestern hinab. »›Wir‹?«
»Die Netzbehörde.«
Sie schwebt im Wasser, während ihr Lieblingsungeheuer langsam dahinkriecht und versucht, sich aufzurichten.
»Wir sind keine schlechten Menschen, Lenie«, sagt Scanlon nach einer Weile. Wenn sie ihn nur anschauen und den ehrlichen Ausdruck auf seinem behelmten Gesicht sehen würde. Er hat ihn jahrelang geübt.
Doch als sie schließlich tatsächlich aufblickt, scheint sie ihn nicht einmal zu bemerken. »Bilden Sie sich bloß nichts ein, Scanlon«, sagt sie. »Sie haben nicht die geringste Kontrolle über das, was Sie sind.«
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Zweifellos wird die Fähigkeit, hier unten zurechtzukommen, von Eigenschaften begünstigt, die unter normalen Umständen als »dysfunktional« gelten würden. Diese Eigenschaften machen nicht nur einen längerfristigen Aufenthalt in der Riftzone möglich; sie können sich als Resultat dieses Aufenthalts sogar noch verstärken. Lenie Clarke beispielsweise hat eine Verstümmlungsneurose entwickelt, die sie vor ihrer Ankunft hier nicht gehabt hat. Ihre Faszination mit einem Tier, das ganz leicht zu »reparieren« ist, wenn es beschädigt wurde, ist ziemlich leicht zu erklären, auch wenn ihre Versuche der »Reparatur« schrecklich stümperhaft sind. Judith Caraco, die vor ihrer Festnahme Hallenmarathon gelaufen ist, schwimmt ständig zwanghaft an Beebes Transponderleitung hoch und runter. Die anderen Teilnehmer haben vermutlich ähnliche Gewohnheiten entwickelt.
Ob dieses Verhalten ein Hinweis auf körperliche Abhängigkeit ist, kann ich bisher noch nicht feststellen. Wenn es so ist, dann vermute ich, dass Kenneth Lubins Zustand am weitesten fortgeschritten ist. Während meiner Gespräche mit einigen der anderen Teilnehmer habe ich erfahren, dass Lubin wohl gelegentlich sogar draußen schläft , was auf keinen Fall gesund sein kann. Ich könnte die Gründe dafür besser verstehen, wenn ich mehr Einzelheiten über Lubins Hintergrund wüsste. Allerdings fehlen in der Akte, die mir über ihn zur Verfügung steht, bestimmte wesentliche Details.
Wenn sie auf Schicht sind, arbeiten die Teilnehmer überraschend gut zusammen, trotz des psychologischen Ballasts, den jeder von ihnen mit sich herumträgt. Sie erfüllen ihre Aufgaben mit einem beinahe unheimlich anmutenden Sinn für Koordination. Fast scheinen sie einer Choreographie zu folgen. Es kommt einem so vor, als ob …
Das ist natürlich nur ein subjektiver Eindruck, doch ich glaube, dass die Rifter eine geschärfte Wahrnehmung voneinander haben, zumindest wenn sie sich außerhalb der Station befinden. Möglicherweise können sie auch mich deutlicher wahrnehmen – entweder das, oder sie haben einige erstaunlich scharfsinnige Vermutungen über meinen Gemütszustand angestellt.
Nein. Das ist zu … zu …
Das könnte zu leicht falsch verstanden werden. Wenn die Haploiden an der Oberfläche das lesen, glauben sie womöglich, die Vampire hätten die Oberhand gewonnen. Scanlon löscht die letzten Zeilen und denkt über Alternativen nach.
Es gibt ein Wort für seine Vermutungen. Ein Wort, das die Erfahrungen beschreibt, die man in einem Isolationstank machen kann oder in einer VR-Umgebung ohne jede Dateneinspeisung oder – in extremen Fällen – wenn die sensorischen Verbindungen des zentralen Nervensystems durchtrennt wurden. Es beschreibt den Zustand sensorischer Deprivation, bei dem wegen des Mangels an Daten ganze Hirnareale abgeschaltet werden. Das Wort lautet Ganzfeld.
In einem Ganzfeld ist es sehr still. Normalerweise wimmelt es in den Temporallappen und Occipitallappen nur so vor Informationen; Signale, die so stark sind, dass sie alles andere übertönen. Wenn diese Signale jedoch verstummen, kann der Geist manchmal in der Dunkelheit ein leises Flüstern wahrnehmen. Vielleicht stellt er sich Dinge vor, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit denen haben, die in irgendeinem fernen Raum auf einem Fernseher zu sehen sind. Oder er spürt einen schwachen
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