Abgrund: Roman (German Edition)
lässt seinen Blick über die Konsole schweifen. »Sie müssen an der Oberfläche sehr einflussreich sein.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich bin schon oft zur Channer-Quelle gefahren. Tauchgänge für Pharmafirmen, Vorratslieferungen für Beebe, Ökotourismus. Vor einer Weile habe ich einen Beamten in die Station runtergebracht, der gesagt hat, dass er einen Monat oder länger dort unten bleiben wird. Drei Tage später erhalte ich einen Anruf von der Netzbehörde, dass ich ihn wieder abholen soll. Doch als ich schließlich zum Dienst erscheine, teilen sie mir mit, dass sich die Sache erledigt hat. Ohne jede weitere Erklärung.«
»Ziemlich seltsam«, stimmt Jarvis zu.
»Sie sind seit drei Wochen der Erste, den ich zur Channer-Quelle hinunterbringe. Soweit ich gehört habe, ist seither niemand mehr dort gewesen. Und das heißt, dass Sie ziemlich einflussreich sein müssen.«
»Eigentlich nicht.« Jarvis zuckt im Zwielicht die Achseln. »Ich bin nur ein wissenschaftlicher Mitarbeiter. Ich mache meinen Job, genau wie Sie. Heute habe ich den Auftrag erhalten, eine Ladung Frischfisch abzuholen.«
Joel blickt ihn an.
»Sie haben gefragt, warum die Fische hier unten so groß werden«, sagt Jarvis und lehnt sich zur Seite. »Wir glauben, dass es sich um eine Art endosymbiotische Infektion handelt.«
»Machen Sie Witze?«
»Für manche Mikroben ist es einfacher, im Innern eines Fisches zu überleben als draußen im Ozean – die osmotische Belastung ist geringer. Und wenn sie sich dann im Innern eines Körpers befinden, produzieren sie mehr ATP, als sie eigentlich brauchen.«
»ATP?«, fragt Joel.
»Eine hochenergetische Phosphatverbindung. Eine zelluläre Energiequelle. Diese Mikroben spucken also jede Menge überschüssiges ATP aus, und der Wirtsfisch kann das dann in zusätzliche Wachstumsenergie umsetzen. Womöglich gibt es an der Channer-Quelle also irgendeinen einzigartigen Bazillus, der Knochenfische befällt und ihnen einen Wachstumsschub versetzt.«
»Ziemlich abgefahren.«
»Das kommt gar nicht so selten vor. Im Grunde ist jede Ihrer Zellen eine Kolonie. Sie wissen schon, der Zellkern, die Mitochondrien und Chloroplasten, wenn Sie eine Pflanze wären …«
»Ich bin keine Pflanze.« Die Gesichter der grauhaarigen Touristen tauchen vor seinem inneren Auge auf. Im Gegensatz zu manchen anderen Leuten …
»… das waren alles einmal eigenständige Mikroben. Vor ein paar Milliarden Jahren hat etwas sie verschluckt, das sie jedoch nicht richtig verdauen konnte, und sie haben im Zytoplasma weitergelebt. Irgendwann haben sie sich dann mit der Wirtszelle arrangiert und übernehmen seither Aufgaben wie den Hausputz oder Ähnliches, um sich nützlich zu machen. Voilà: Da haben Sie Ihre moderne eukaryotische Zelle.«
»Was passiert also, wenn dieser Channer-Bazillus einen Menschen befällt? Werden wir dann alle drei Meter groß?«
Höfliches Gelächter. »Nein. Der Mensch hört auf zu wachsen, wenn er das Erwachsenenalter erreicht hat. Das ist bei den meisten Wirbeltieren der Fall. Fische dagegen wachsen ihr ganzes Leben lang weiter. Und Tiefseefische … die tun nichts anderes, als zu wachsen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Joel zieht die Augenbrauen hoch.
Jarvis breitet die Hände aus. »Ich weiß, ich weiß. Die meisten Tiefseefische sind nicht größer als Ihr kleiner Finger. Das liegt aber nur daran, dass es ihnen an Sprit fehlt. Glauben Sie mir, wenn sie richtig vollgetankt sind, dann wachsen sie. Warum sollte man unnötig Kalorien darauf verschwenden, umherzuschwimmen, wenn man sowieso nichts sehen kann? In einer dunklen Umgebung ist es für Räuber viel sinnvoller, sich auf die Lauer zu legen. Wenn man aber immer weiter wächst, ist man irgendwann vielleicht zu groß für andere Räuber, verstehen Sie?«
»Hmm.«
»Allerdings beruht diese ganze Theorie auf ein paar Proben, die ohne jeden Schutz vor Temperatur- oder Druckveränderungen an die Oberfläche geholt wurden.« Jarvis schnaubt verächtlich. »Man hätte sie auch gleich in einer Papiertüte verschicken können. Aber diesmal machen wir es richtig … He, sehe ich da unten etwa Licht?«
Direkt unter ihnen ist ein schwaches schmutzig gelbes Leuchten sichtbar geworden. Joel ruft eine topografische Anzeige auf: Es ist die Station. Die Geothermalanlage an der Riftzone selbst sendet im Umkreis von 340 Grad eine Sequenz aus harten, grünen Echos aus. Und links davon, etwa hundert Meter vom östlichsten Generator entfernt, gibt etwas im
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