Abgrund: Roman (German Edition)
wieder vergisst sie, was man ihr angetan hat.
Sie muss sich bewusst daran erinnern, dass sich an der Stelle, wo einmal ihr linker Lungenflügel gewesen ist, nun nur noch Apparate befinden. Sie hat sich schon so sehr an die chronischen Schmerzen in ihrer Brust gewöhnt, an das zusätzliche Gewicht von Plastik und Metall, dass sie sie kaum noch wahrnimmt. Sie weiß noch, wie es gewesen ist, ein ganzer Mensch zu sein und dieses schwache Gefühl für echte Empfindung zu halten.
Doch diese Momente halten nie lange an. Die ganze Station ist voller Spiegel, die die Räume größer erscheinen lassen sollen. Manchmal schließt Clarke die Augen, um die Spiegelbilder nicht mehr sehen zu müssen, die endlos auf sie zurückgeworfen werden. Doch es hilft nichts. Sie presst die Lider zusammen und spürt die kleinen Hornhautkappen darunter, die ihre Augen bedecken wie eine glatte, weiße Linsentrübung.
Sie verlässt ihre Kabine und geht den Korridor hinunter zum Aufenthaltsraum. Dort wartet Ballard auf sie, in eine Taucherhaut gehüllt und selbstsicher wie immer.
Ballard erhebt sich. »Sind Sie so weit?«
»Sie haben hier das Kommando«, sagt Clarke.
»Nur auf dem Papier.« Ballard lächelt. »Hier unten gibt es keine Rangordnung, Lenie. So weit es mich betrifft, stehen wir auf einer Stufe.« Nach zwei Tagen in der Riftzone überrascht es Lenie immer noch, wie oft Ballard lächelt. Sie tut das beim geringsten Anlass, doch ihr Lächeln wirkt nicht immer echt.
Irgendetwas schlägt von außen gegen die Hülle der Station.
Ballards Lächeln wird unsicher. Sie hören es noch einmal; ein feuchter, gedämpfter Schlag, der durch die Titanpanzerung der Station dringt.
»Es dauert eine Weile, bis man sich daran gewöhnt hat, nicht wahr?«, sagt Ballard.
Wieder ertönt das Geräusch.
»Das klingt nach etwas Großem …«
»Vielleicht sollten wir die Lichter ausschalten«, schlägt Clarke vor, obwohl sie weiß, dass sie das nicht tun werden. Beebes Außenscheinwerfer brennen rund um die Uhr, ein elektrisches Lagerfeuer, das die Dunkelheit zurückdrängt. Von innen können sie es zwar nicht sehen – Beebe hat keine Fenster –, doch irgendwie spendet ihnen das Wissen um dieses unsichtbare Feuer Trost …
Bumm!
… jedenfalls meistens.
»Wissen Sie noch, während des Trainings?«, sagt Ballard über das Geräusch hinweg. »Als sie uns erzählt haben, dass die Fische hier für gewöhnlich sehr klein sind …«
Sie verstummt. Die Station knarrt leise. Sie lauschen eine Weile. Sonst ist alles still.
»Wahrscheinlich hat es aufgegeben«, sagt Ballard. »Man sollte meinen, dass sie es irgendwann kapieren.« Sie geht zur Leiter hinüber und steigt nach unten.
Clarke folgt ihr ein wenig ungeduldig. Es gibt Geräusche in der Station, die ihr viel mehr Unbehagen bereiten als die sinnlosen Angriffe irgendeines dummen Fisches. Clarke hört müde Metalllegierungen darüber nachdenken, ob sie aufgeben sollen. Sie spürt den Ozean, der nach einem Weg sucht, zu ihnen hereinzukommen. Und wenn er nun einen findet? Das gesamte Gewicht des Pazifiks könnte auf sie niederkrachen und sie zu Brei zermalmen. Jederzeit.
Sie geht lieber nach draußen, denn dort kann sie es wenigstens kommen sehen. Hier drinnen kann sie nur darauf warten, dass es endlich geschieht.
Nach draußen zu gehen, ist so, als ertrinke man.
Clarke steht Ballard in einer abgedichteten Taucherhaut gegenüber, in einer Luftschleuse, die kaum genug Platz für sie beide bietet. Sie hat gelernt, die erzwungene Nähe zu dulden; der gläserne Panzer über ihren Augen macht das Ganze ein wenig erträglicher. Dichtungen schließen, Lampen überprüfen, Einspritzventile testen … Das Ritual bringt sie Schritt für Schritt dem grauenhaften Moment näher, in dem sie die Apparate weckt, die in ihr schlummern, und sich verwandelt .
In dem sie einatmet, ohne wieder auszuatmen.
In dem irgendwo in ihrer Brust ein Vakuum entsteht, das die Luft in ihrem Innern schluckt. An dem ihr verbliebener Lungenflügel im Brustkorb zusammenschrumpft und ihre Eingeweide in sich zusammenfallen; an dem myoelektrische Dämonen die Hohlräume ihres Körpers und ihre Gehörgänge mit isotonischer Salzlösung füllen. Und sämtliche Ansammlungen von Gasen in ihrem Körper von einem Moment auf den nächsten verschwinden.
Es ist immer das gleiche Gefühl. Die plötzliche überwältigende Übelkeit; die engen Wände der Luftschleuse, die sie auf den Beinen halten, wenn sie kurz davor steht zusammenzubrechen; das
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