Abgrund: Roman (German Edition)
seiner Position auch eine vollkommen normale Bitte. Schließlich geht es um eine Routinebewertung.
Sie mustert ihn einen Moment lang, den Kopf schräg zur Seite geneigt. Auf ihrem Gesicht, das wie immer ausdruckslos ist, scheint der Anflug eines Lächelns zu liegen. Schließlich setzt sie sich wieder.
Sie tippt auf ein Menü. »Das ist der Schlund.« Eine Ansammlung leuchtender Rechtecke, die sich in einen Hintergrund aus Höhenlinien einfügen. »Die Wärmeanzeige.« Das Bild explodiert in psychedelischen Falschfarben. Rote und gelbe Hotspots pulsieren in unregelmäßigen Abständen entlang der Hauptbruchzone. »Bei der Überwachung der Arbeitsvorgänge spielt die Wärmeanzeige kaum eine Rolle«, erklärt Clarke. »Dort draußen bemerkt man Temperaturveränderungen sowieso schneller.« Die psychedelischen Farben verblassen und verwandeln sich wieder in Grün und Grau.
Und wenn dort draußen nun jemand überrascht wird, und Sie haben hier drinnen nicht die entsprechenden Werte, um zu wissen, dass er in Schwierigkeiten ist? Scanlon stellt die Frage nicht laut. Eine weitere Bequemlichkeit der Rifter.
Clarke schwenkt die Anzeige und stößt auf zwei alphanumerische Icons. »Alice und Ken.« Ein weiterer roter Hotspot kommt in der oberen linken Ecke der Anzeige in Sicht.
Nein, Moment mal. Sie hat doch die Wärmeanzeige ausgeschaltet …
»He«, sagt Scanlon, »das ist ein Totmannschalter …«
Es ist kein Alarmsignal zu hören. Warum gibt es kein Alarmsignal? Sein Blick huscht über die halb vertraute Konsole. Wo ist es, wo …
Mist …
Die Sirene ist ausgeschaltet worden.
»Schauen Sie doch!« Scanlon deutet auf die Anzeige. »Können Sie denn nicht …«
Beinahe träge blickt Clarke zu ihm hoch. Sie scheint ihn nicht zu verstehen.
Er tippt mit dem Daumen heftig auf den Bildschirm. »Dort draußen ist gerade jemand gestorben!«
Sie blickt auf die Anzeige und schüttelt träge den Kopf. »Nein …«
»Sie blöde Schlampe, Sie haben das Alarmsignal ausgeschaltet!«
Er drückt auf ein Steuerungsicon. Ein Jaulen hallt durch die Station. Scanlon zuckt erschrocken zurück und stößt gegen die Schottwand. Clarke beobachtet ihn mit leicht gerunzelter Stirn.
»Was ist los mit Ihnen?« Er streckt die Hände aus und packt sie an den Schulter. »Tun Sie doch etwas! Rufen Sie Lubin, rufen Sie …« Das Heulen ist ohrenbetäubend. Er schüttelt Clarke heftig und zerrt sie aus dem Stuhl hoch …
Und zu spät fällt ihm ein: Lenie Clarke fasst man nicht an .
Etwas geht mit ihrem Gesicht vor sich. Es scheint beinahe in sich zusammenzufallen. Lenie Clarke die Eiskönigin ist plötzlich verschwunden. An ihrer Stelle befindet sich nur noch ein geschundenes, blindes kleines Kind, dessen Körper zittert und dessen Mund sich bewegt. Er kann es über die Sirene nicht hören, doch ihre Lippen formen die Worte: Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid …
Dann erstarrt sie.
Sie scheint sich gegen den Lärm und Scanlons Angriff förmlich abzuschotten. Ihr Gesicht wird vollkommen ausdruckslos. Sie steht von ihrem Stuhl auf, um Zentimeter größer, als sie eigentlich sein sollte. Eine Hand schließt sich um Yves Scanlons Kehle und stößt ihn zurück.
Mit rudernden Armen stolpert er rückwärts in den Aufenthaltsraum. Der Tisch taucht neben ihm auf; er streckt die Hand aus, um sein Gleichgewicht wiederzugewinnen.
Plötzlich herrscht wieder Stille in der Station.
Scanlon holt tief Luft. Ein weiterer Vampir ist am Rand seines Blickfeldes aufgetaucht und steht reglos im Durchgang zum Korridor. Er achtet nicht auf ihn. Direkt vor ihm nimmt Lenie Clarke erneut in der Kommunikationszentrale Platz, mit dem Rücken zu ihm. Scanlon macht einen Schritt nach vorn.
»Es ist Karl«, sagt sie, bevor er sprechen kann.
Es dauert einen Moment, ehe ihre Worte in sein Bewusstsein vordringen: Acton .
»Aber … das ist Monate her«, sagt Scanlon. »Sie haben ihn verloren.«
»Ja, wir haben ihn verloren.« Sie atmet ruhig. »Er ist in einen Raucher hinabgestiegen, der kurz darauf ausgebrochen ist.«
»Es tut mir leid«, sagt Scanlon. »Das … habe ich nicht gewusst.«
»Ja.« Ihre Stimme wirkt angespannt, während sie sich bemüht, gleichgültig zu klingen. »Er ist zu weit unten … Wir können ihn nicht herausholen. Es ist zu gefährlich.« Sie dreht sich zu ihm um, unwahrscheinlich ruhig. »Der Totmannschalter funktioniert allerdings immer noch. Er wird so lange weiterheulen, bis die Batterie leer ist.« Sie zuckt die Achseln.
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