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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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»Also lassen wir die Sirene ausgeschaltet.«
    »Das kann ich Ihnen nicht verdenken«, sagt Scanlon leise.
    »Sie glauben gar nicht, wie sehr mich das beruhigt«, erwidert Clarke sarkastisch.
    Er wendet sich zum Gehen.
    »Warten Sie«, sagt sie. »Ich kann für Sie näher heranzoomen. Ich kann Ihnen den genauen Ort zeigen, wo er gestorben ist, in maximaler Auflösung.«
    »Das ist nicht nötig.«
    Sie drückt ein paar Knöpfe an der Steuerkonsole. »Kein Problem. Natürlich möchten Sie das gern wissen. Welcher Mechaniker würde sich nicht für die technischen Daten seiner Schöpfung interessieren?« Sie gestaltet die Anzeige um wie eine Bildhauerin, fährt die Bildschärfe immer weiter hoch, bis nur noch ein Wirrwarr aus schwachen grünen Linien zu erkennen ist und ein pulsierender roter Punkt.
    »Er ist in einer Spalte stecken geblieben«, sagt sie. »Selbst jetzt, nachdem sein ganzes Fleisch weggekocht ist, sieht es noch ziemlich eng aus. Ich weiß gar nicht, wie er es geschafft hat, dort hineinzukriechen.« Ihre Stimme verrät keinerlei Anspannung. Sie könnte auch über den Urlaub eines Freundes reden.
    Scanlon spürt ihren Blick auf sich ruhen; seinen hält er auf den Bildschirm gerichtet.
    »Fischer«, sagt er. »Was ist mit ihm passiert?«
    Aus den Augenwinkeln sieht er, wie sie erstarrt, um dann die Achseln zu zucken. »Wer weiß? Vielleicht hat Archie ihn erwischt.«
    »Archie?«
    »Archie Theutis.« Scanlon kennt den Namen nicht; soweit er sich erinnert, taucht er nicht in den Akten auf. Er denkt darüber nach und beschließt dann, nicht weiter nachzufragen.
    »Ist denn wenigstens Fischers Totmannschalter ausgelöst worden?«
    »Er hatte keinen.« Sie zuckt erneut die Achseln. »Die Tiefe kann einen auf viele verschiedene Weisen umbringen, Scanlon. Nicht immer hinterlässt sie Spuren.«
    »Es … es tut mir leid, wenn ich Sie verärgert habe, Lenie.«
    Ihr Mundwinkel zuckt ganz leicht.
    Es tut ihm tatsächlich leid. Auch wenn es nicht seine Schuld ist. Ich habe Sie nicht zu dem gemacht, was Sie sind, will er sagen. Ich habe Sie nicht kaputt gemacht. Das war jemand anderes. Ich bin nur zufällig auf Sie gestoßen und habe eine Verwendung für Sie gefunden. Ich habe Ihrem Leben einen Sinn gegeben. Mehr als jemals zuvor.
    Ist das wirklich so schlimm?
    Er wagt es nicht, die Frage laut zu stellen, deshalb wendet er sich zum Gehen. Und als Lenie Clarke ganz kurz einen Finger auf den Bildschirm legt, an der Stelle, wo Actons Icon blinkt, gibt er vor, es nicht zu bemerken.

OFFI/ÜBERTR/260850:1352
    Vor Kurzem habe ich ein aufschlussreiches Gespräch mit Lenie Clarke geführt. Obwohl sie es nicht offen zugibt – sie ist äußerst beherrscht und kann ihre Gefühle vor Laien sehr gut verbergen –, glaube ich, dass sich zwischen ihr und Karl Acton eine sexuelle Beziehung entwickelt hat. Eine ermutigende Entdeckung, besonders da meine ursprünglichen Profile eindeutig darauf hinwiesen, dass eine solche Beziehung entstehen könnte. (Clarke hat sich in der Vergangenheit häufig zu jähzornigen Partnern hingezogen gefühlt.) Damit steigt die empirische Wahrscheinlichkeit, dass sich auch andere, damit zusammenhängende Vorhersagen bezüglich des Verhaltens der Rifter als zutreffend erweisen könnten.
    Ich habe außerdem erfahren, dass Karl Acton nicht einfach nur verschwunden ist, sondern vom Ausbruch eines Rauchers getötet wurde. Ich weiß nicht, was er in dem Schlot zu suchen hatte – ich werde weitere Nachforschungen anstellen –, aber ein solches Verhalten kommt mir in höchstem Maße unverantwortlich, wenn nicht gar selbstmörderisch vor. Selbstmord lässt sich nicht mit Karl Actons DSM- oder ECM-Profilen vereinbaren, die korrekt gewesen sein müssen, als sie ursprünglich erstellt wurden. Wenn er sich tatsächlich umgebracht hat, würde dies auf grundlegende Persönlichkeitsveränderungen hinweisen. Was wiederum für das Trauma-Sucht-Szenario sprechen würde. Eine Form von Hirnverletzung kann jedoch ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Während meines Studiums der medizinischen Aufzeichnungen der Station habe ich zwar keinerlei Hinweise auf Kopfverletzungen gefunden, doch beschränkten sich meine Nachforschungen auf die lebenden Teilnehmer. Vielleicht war Acton irgendwie … anders …
    Ach ja, ich habe herausgefunden, wer Archie Theutis ist. Allerdings nicht in den Personalakten, sondern in der Bibliothek. Architheutis: Riesenkalmar.
    Ich glaube, Clarke hat einen Scherz gemacht.

Binsen
    In Zeiten wie diesen

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