Abgrund: Roman (German Edition)
kommt es einem so vor, als sei die Welt schon immer schwarz gewesen.
Das stimmt natürlich nicht. Erst vor zehn Minuten hat Joel Kita durch die hintere Luke einen Hauch von Blau gesehen. Bevor sie durch die Echostreuschicht getaucht sind. Wie er gehört hat, ist die Schicht im Vergleich zu früher ziemlich dünn geworden, doch sie ist immer noch sehr beeindruckend. Leuchtende Syphonophoren, Laternenfische und Ähnliches. Immer noch wunderschön.
Nun befindet sie sich bereits tausend Meter über ihnen. Hier gibt es nichts mehr, außer dem dünnen vertikalen Strich von Beebes Transponderleitung. Joel lässt das U-Boot während des Abstiegs träge Kreise ziehen; die Vorderseite des Gefährts bohrt sich in das Wasser wie ein herabsinkender Korkenzieher. Etwa alle dreißig Sekunden wandert die Transponderleitung mit schöner Regelmäßigkeit an der Hauptsichtluke vorbei, eine helle vertikale Linie vor dem dunklen Hintergrund.
Davon abgesehen herrscht vollkommene Finsternis.
Ein winziges Ungeheuer stößt gegen die Sichtluke. Es besitzt nadelspitze Zähne, die so lang sind, dass es sein Maul nicht schließen kann, und einen aalähnlichen Körper, der mit leuchtenden Photophoren gespickt ist – höchstens fünfzehn oder zwanzig Zentimeter lang. Es ist nicht einmal groß genug, um ein Geräusch zu verursachen, als es gegen die Luke stößt, und dann ist es auch schon wieder verschwunden und trudelt über ihnen davon.
»Ein Viperfisch«, sagt Jarvis.
Joel wirft seinem Passagier einen Blick zu. Jarvis kauert neben ihm, um das zu genießen, was man scherzhaft »die Aussicht« nennen könnte. Er ist Zellphysiologe an der Universität Rand/Washington und soll ein mysteriöses Paket abholen.
»Sehen Sie die oft?«, fragt er.
Joel schüttelt den Kopf. »Nicht so weit unten. Das ist eher ungewöhnlich.«
»Nun ja, diese ganze Gegend ist ungewöhnlich. Darum bin ich ja hier.«
Joel wirft einen Blick auf die Positionsanzeige und justiert eine Trimmungsklappe.
»Viperfische werden im Allgemeinen nicht größer als das Exemplar, das Sie gerade gesehen haben«, erzählt Jarvis. »Aber es gab da diesen Typen, damals in den 1930ern – Beebe war sein Name, nach ihm wurde auch die Station … Egal, jedenfalls hat er steif und fest behauptet, er hätte einen gesehen, der über zwei Meter lang war.«
Joel knurrt. »Ich habe nicht gewusst, dass damals schon Leute bis in diese Tiefe hinabgetaucht sind.«
»Nun ja, sie fingen gerade erst damit an. Zu der Zeit glaubte man noch, Tiefseefische seien mickrige kleine Zwerge, weil sie mit ihren Schleppnetzen nie etwas anderes gefangen haben. Doch dann hat Beebe dieses Prachtexemplar von einem Viperfisch gesichtet, und die Leute denken sich: He, vielleicht haben wir bisher ja nur kleine Fische gefangen, weil die größeren zu schnell für unsere Netze sind. Womöglich wimmelt es in der Tiefsee tatsächlich von riesigen Meeresungeheuern.«
»Das ist Unsinn«, sagt Joel. »Jedenfalls so weit ich das bisher feststellen konnte.«
»Ja, die meisten Leute sind derselben Ansicht. Aber immer wieder werden hier und da Stücke von etwas Seltsamen angeschwemmt. Außerdem gibt es da noch den Riesenmaulhai und den einen oder anderen Riesenkalmar.«
»Die tauchen niemals so tief hinab. Ich möchte wetten, dass die anderen Meeresgiganten es auch nicht tun. Hier unten gibt es nicht genug Nahrung.«
»Außer an den Quellen«, sagt Jarvis.
»Richtig.«
»Eigentlich sollte man wohl eher sagen: außer an dieser Quelle«, berichtigt sich Jarvis.
Die Transponderleitung gleitet vorbei wie ein stummes Metronom.
»Ja«, sagt Joel nach einer Weile. »Aber woran liegt das?«
»Tja, wir sind uns nicht ganz sicher. Aber wir arbeiten daran. Darum bin ich hier. Ich soll eins von diesen schuppigen Ungeheuern hochholen.«
»Das soll wohl ein Scherz sein! Wie wollen Sie das anstellen? Sollen wir es etwa mit dem Tauchboot zerquetschen?«
»Eingefangen wurde es schon. Die Rifter haben das vor ein paar Tagen für uns erledigt. Wir müssen es nur noch abholen.«
»Das hätte ich auch allein tun können. Warum sind Sie überhaupt mitgekommen?«
»Um sicherzugehen, dass die Rifter alles richtig gemacht haben. Wir wollen schließlich nicht, dass der Behälter an der Oberfläche explodiert.«
»Und dieser zusätzliche Tank, den Sie an mein Tauchboot angehängt haben? Der, der über und über mit Warnschildern beklebt ist?«
»Ach«, sagt Jarvis. »Der ist nur dazu da, die Probe zu sterilisieren.«
»Aha.« Joel
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