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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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fair, sagt sie.
    Fair?, was ist das wieder für
ein Wort von euch, von mir, sagt Nomi, fair heisst gerecht, gut, dann hab' ich
wieder einmal etwas gelernt, und jetzt könnt ihr etwas lernen. Neulich habe ich
Icu einen Brief geschickt und Geld, Deutsche Mark, mindestens ein halbes Jahr
hätten sie und Onkel Piri davon leben können. Meint ihr, der Briefträger fährt
dort wie in der Schweiz mit einem gelben Motorrad von Haus zu Haus und bringt
mit einem freundlichen "Hallo" die Briefe vorbei? Meint ihr, die
Post kommt noch da an, wo sie ankommen sollte? Meint ihr, es gibt da noch
irgendeinen ehrlichen Menschen in den öffentlichen Ämtern? Wie soll ich es
anstellen, dass auf meinem Brief keine Briefmarke aus der Schweiz drauf ist,
sagt mal, habt ihr eigentlich schon mal irgendwas überlegt, das über eure
Nasenspitze hinausgeht? (normalerweise sagt das Vater), Mutter, die schon
längstens ins Ungarische gewechselt hat, offenbar vergessen hat, dass wir nicht
zu Hause sind, ich will nicht über den Krieg — häborü — reden, hört ihr, wir können
hoffen, dass es bald vorbei ist, das ist das Einzige, was wir tun können, Ildi,
ich kann nicht verstehen, dass du so was fragst, ich kann nicht verstehen, dass
du mitten in der Arbeit mit so was anfängst, so leichtfertig, Glorija, die den
Kopf zu uns dreht, fragt, ob alles gut sei, ob sie uns noch einen Kaffee machen
solle. Die Pause ist fertig, sagt Mutter, steht auf, schaut mich nicht mehr an,
weder mich noch Nomi, und wahrscheinlich ist es ihr Kleid, die Art, wie ihr
Kleid seitlich und energisch ausschwingt, die mir verrät, dass es eine fast unmenschliche
Energie braucht, um die Normalität, den Alltag hier aufrechtzuerhalten — eine
Energie, die ich nicht werde aufbringen können.
    Nomi und ich, wir schauen uns
kurz an, stehen dann gleichzeitig auf, um weiterzuarbeiten.
     
    Ja, wahrscheinlich war es
leichtfertig von mir, ich habe mir tatsächlich nicht viel überlegt, und dann
war ich völlig erschlagen von Mutters heftiger Reaktion, wir, die eigentlich
nie über den Krieg reden zu Hause, und als der Krieg in Jugoslawien ausbrach,
sagte Vater nur: das ist ein Krieg, der wird schnell zu Ende sein. Schnell?,
wie schnell, habe ich gefragt. Ein paar Monate, höchstens. Ein Verbrecher wie
Milosevic hat heute keine Zukunft mehr in Europa, und es klang so überzeugend
wie die Stimme eines geübten Fernsehsprechers, Vater, der sich seit Ausbruch
des Krieges die frühen Nachrichten anschaut, die regulären, zur besten
Sendezeit und die Spätnachrichten, er zappt vom deutschen zum österreichischen
zum ungarischen Sender und wieder zurück (unsere Sprache, die seit ein paar
Monaten per Satellit in unser Wohnzimmer gekommen ist), wir sitzen auf dem
Sofa, Nomi, Mutter und ich, schauen manchmal mit, hören zu, worüber sie
berichten, auf Ard oder im O rf oder mtv (Magyar Tekviziö), und wir warten, was Vater von
seinem Sessel aus dazu sagt: Dazu braucht's Mut, ist aber das einzig Richtige,
meint er, als Deutschland und Österreich die Unabhängigkeitserklärung von
Kroatien und Slowenien anerkennen. Und wir sitzen am Esstisch, als im Mai 1992
der UN-Sicherheitsrat ein umfassendes Embargo gegen Serbien und Montenegro
verhängt, endlich tun sie etwas, sagt Vater, es ist doch klar, dass
einschneidende Massnahmen ergriffen werden müssen, um diese verdammten
Kommunisten endlich zu vertreiben, die Kommunisten und die Serben, was ja ein
und dasselbe ist! Und wir essen kalt, Brot, Schinken, Käse, hart gekochte
Eier, eingelegte Peperoni, so wie wir es an allen anderen Abenden auch tun.
    Vielleicht haben wir
vergessen, dass die Vojvodina zu Serbien gehört, dass die einschneidenden Massnahmen,
wie der Nachrichtensprecher sagte, wie Vater sagte (und auf Ungarisch klingen
die einschneidenden Massnahmen noch einschneidender), auch unsere Familie
treffen wird, dass das Handels-, Öl-, Luftembargo möglicherweise drastische
Auswirkungen haben wird auf das Leben von Tante Icu, Tante Manci, Onkel Móric,
Onkel Piri, Bela, Csilla, Grossonkel Pista, aber vielleicht haben wir gar
nichts vergessen, denkt jemand von uns eine Sekunde lang sogar an Juli, an
Julis Mutter oder an Herrn Szalma, Mamikas Nachbarn, möglicherweise fällt
jemandem von uns das winzige Geschäft ein, an der Beogradska, wo Mutter ihre kaufmännische
Lehre gemacht hat, dass dieses winzige Geschäft, in dem Nomi und ich jedes Jahr
Salzstangen, Süssigkeiten, Tonic und Traubisoda gekauft haben, jetzt ganz leer
ist, geschlossen,

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