Abonji, Melinda Nadj
wie uns Onkel Móric und Tante Manci in ihrem letzten Brief
geschrieben haben.
Wir essen, essen weiter, reden
über den nächsten Tag.
Weisst du, was mit Mutter
los war, frage ich Nomi, als wir zusammen Mittag essen.
Nicht so schwierig zu
verstehen, antwortet Nomi, sie hat Angst.
Vater und ich, wir gehen
zusammen den Hang hinunter, und ich wundere mich jedes Mal darüber, dass wir
fast gleich schnell gehen, mein Vater hat kleine Füsse, denke ich, nicht viel
grösser als ich, wahrscheinlich deshalb, und Vater zündet sich eine Zigarette
an, meistens an derselben Stelle, wo man auf den See hinunter sieht, der jetzt
noch schwarz daliegt, eingerahmt von Lichtern, von gelb bis orange, oder ist
der Himmel der See? Zu dieser Tageszeit sind die Dinge noch nicht klar
voneinander unterscheidbar, denke ich, Vater und ich, wir reden selten, wir
gehen, und Vaters Rauch kitzelt meine Nase, ich weiss nicht, ob Vater unserem
Gehen zuhört, den Geräuschen, unseren pendelnden Armen, unseren Schritten.
Du hast mit dem Studium
aufgehört, hat Mutter erzählt, sagt Vater, in einen unserer Schritte hinein,
nein, nicht aufgehört, nur reduziert, antworte ich, vorübergehend. Wird man
dich nicht vermissen da, beim Studium, fragt Vater und zeigt mit der brennenden
Zigarette auf einen Igel, der soeben unter einem geparkten Auto verschwindet.
Kann mir ja alles selber einteilen, sage ich und möchte Vater bitten, still zu
sein, weil ich diese Viertelstunde, in der wir schweigend zusammen gehen, mag,
weil ich mich während der Zeit, in der wir uns in diesen dunklen Tönen bewegen,
frei fühle, und ich könnte ein bisschen später ins Dorf hinunter fahren, mit
dem Bus, dann könnte ich sogar länger schlafen, aber das will ich nicht, mich
in diese Dorfbus-Atmosphäre setzen, frühmorgens in ausgeleuchtete Gesichter
sehen, das ertrage ich nicht.
Die Schule ist das Wichtigste,
sagt Vater, wir sind froh, wenn du uns hilfst, aber die Schule muss weitergehen,
und ich sage nichts, sage nicht, Vater, hör auf, "Schule" zu sagen,
das ist keine Schule, sondern die Universität, ich bin eine von zwanzigtausend
Studierenden, die unklare Vorstellungen haben, sich in irgendwas vertiefen,
sich in riesigen Bibliotheken verirren, und bis jetzt finde ich nur einen
Professor überzeugend, der eigentlich gar kein Professor ist, sondern ein
Privatdozent, an der Universität, meine Damen und Herren, werden Sie lebendig
begraben, sagt er, ohne die Miene zu verziehen, Sie müssen sich darauf
einstellen, dass Sie nichts weiter sind als Angestellte in einem musealen Betrieb,
und wenn Sie das akzeptiert haben, können Sie anfangen, eigenständig zu
denken, gegen den Strom zu schwimmen (Vater, dem ich gern erzählen würde, dass
ich seit einem Jahr nicht mehr Rechtswissenschaften studiere, dass ich mir ein
Semester lang Vorlesungen in Philosophie, Religionswissenschaften, Literatur,
Pädagogik angehört habe, aber das Einzige, was mich interessiere, ist
Geschichte, die Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte; Vater, der mit
Wissen schwer zu überzeugen ist, vor allem mit Geschichte, weil er ja
Geschichte selber erlebt habe, deswegen reagiert er jetzt schon allergisch,
wenn ich ihm etwas über den Zweiten Weltkrieg erzähle, hast du das in einem
Buch gelesen, fragt er dann gereizt, der Zweite Weltkrieg passt in kein Buch,
meint Vater, und da gebe ich ihm sogar Recht, und aus diesem Grund habe ich
Vater noch nicht erzählt, dass ich Geschichte studiere, weil es für ihn am
weitesten von dem entfernt ist, was ein sinnvolles Studium ist, gut, dass du
nicht Zahnärztin werden willst, das kann ich ja verstehen, es gibt Schöneres
als allen in die Innenausstattung zu schauen, aber warum nicht Ärztin?, am
besten aber Rechtsanwältin! Ein Beruf schwarz-auf-weiss, nennt das Vater, das
brauchen die Menschen immer, weil sie immer streiten, und dann verdienst du
viel Geld und kutschierst mich in einer Limousine durch die Welt — Vater,
nachdem er ein paar Schnäpschen getrunken hat), und Vater bleibt plötzlich
stehen, vor der Treppe, die zum Bahnhof führt, warum gibst du mir keine
Antwort, und ich, ich habe schon die ersten zwei Stufen der Treppe genommen,
bleibe dann stehen, drehe mich zu Vater, ich mache weiter, das hab ich dir ja
schon gesagt, und ich merke, dass meine Stimme wenig überzeugend klingt, such
dir einen anderen Grund, wenn du aufhören willst, sagt Vater und kommt auf
mich zu mit seiner dunkelgrünen Wildlederjacke, Vaters Locken, die in
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