Abonji, Melinda Nadj
weiss
ich, dass es etwas an ihm gibt, das ich verstehe, und ich wünschte mir, ich
könnte Vaters Flüche hörbar machen, so in die andere Sprache übersetzen, dass
sie wirklich glänzen — Stalin, schickst du uns einen sibirischen Gruss aus
deinem unterkühlten Arsch, willst du uns jetzt schon die Laune verderben, noch
bevor wir angekommen sind, Adam und Eva, die immer noch unschuldig und
besitzlos sind, nackt in deinem sozialistischen Paradies herumlaufen? —, aber
sollte mir das nie gelingen, so bin ich mir immerhin sicher, dass Vater
losballert, um zu verhindern, dass seine Muttersprache auskühlt, solange das
Fluchen noch fliesst, können die geliebten Wörter doch unmöglich absterben,
oder? (Und wenn es möglich wäre, Vaters Wendungen in die andere Sprache, ins
Deutsche zu überführen, dann könnte ich ihm zeigen, dass ich seine Art, sich
fluchend oder schweigend mitzuteilen, verstehe. Wenn nämlich bereits ein Wort
keine Entsprechung findet, wie soll dann ein halbes Leben in der neuen Sprache
erzählt werden?, dann kann nur das Schweigen oder die verkürzte, dramatische
Form des Fluches davon erzählen, wie es gewesen ist, wie es gewesen sein
könnte; das würde ich Vater sagen, und wahrscheinlich wäre er erstaunt darüber,
dass ich mir über ihn, über seine Sprache Gedanken mache.)
Der Rastplatz, auf dem Vater
unseren Wagen schliesslich zum Stillstand bringt, ist fast voll, wir werden
also warten, bis Gott wieder lächelt, sagt er und stellt den Motor ab, seine
Hände, die reglos auf dem Steuerrad bleiben, seine Finger, die auffällig kurz
und kräftig sind, ob er ein Eingeklemmtes wolle, frage ich ihn, wir hätten Schinken
oder Salami, und Vater antwortet, dass das hier eine merkwürdige Versammlung
sei, und deutet mit seinem Blick auf die Autos, die zu Dutzenden stillstehen,
deren Kühlerhauben schon zentimeterdick mit Schnee bedeckt sind, Schinken sei
ihm jetzt lieber, und als Vater sein Eingeklemmtes auspackt, bricht er in
Tränen aus.
Die Frühlingsnacht war
sternenlos, und ich erinnere mich, dass mir, als ich meine Zimmertür öffnete,
die kugelförmige, funktionale Hässlichkeit der Laterne, die den schmalen, von
Hainbuchen gesäumten Fussweg beleuchtete, erstmals auffiel, da der Rollladen
des Korridorfensters ungewöhnlicherweise nicht heruntergelassen war; meine
Annahme, die mich, als ich lesend auf dem Bett lag, augenblicklich fassungslos
machte, dass es Vater sein könnte, den ich weinen hörte — ich, die meinen Vater
bis anhin nur fluchen, schimpfen, schnarchen, lachen, summen gehört hat, blieb
in der Zimmertür stehen, dachte, dass die Laterne in ihrer Hässlichkeit
verloren wirkte, weil niemand da war, dem sie den Weg erhellen konnte.
Mutter sass Vater gegenüber,
am kleinen runden Tisch im Korridor, versuchte, ihn zum Sprechen zu bringen,
versuchte, ihm den Hörer aus der Hand zu nehmen. Vater aber schien sich direkt
an den Hörer zu klammern, während sein Schluchzen in die Sprechmuschel fiel.
Es dauerte lange, bis Vater
etwas sagen konnte, und in dieser Ewigkeit, in der sein Kopf in einer grotesken,
hilflosen Bewegung zitterte, sich sein Körper vom Schluchzen verkrampfte, hätte
ich mich gern wieder ins Zimmer verzogen, wäre gern, wie es Kinder tun, unters
Bett gekrochen, um mit allem etwas zu tun zu haben, nur nicht mit der
Wirklichkeit. Aber ich, ich blieb reglos stehen, liess es zu, dass mein Kopf
aus der Strassenlaterne einen Mond formte, der uns mit einem grässlichen Mund
angrinste, ich verhinderte es nicht, dass meine geliebten Bäume zu Schatten
erstarrten. Und ich hielt es sogar für möglich, dass der Mond sprechen konnte.
Oder war es nur Vaters Mund, der endlich den Satz hervorbrachte: Mamika ist
gestorben.
Ein guter Pfarrer ist einer,
der die richtigen Worte findet und dann schweigt, hat Mamika einmal gesagt, als
ich sie als Kind gefragt habe, warum sie immer von "unserem guten Herrn
Pfarrer" spricht. Daran denke ich, als ich mit gefalteten Händen zusehe,
wie zwei Männer Mamikas Sarg an robusten Seilen in die ausgehobene Erde
hinunterlassen und die Umstehenden, die Überlebenden, je mehr sich der Sarg in
die Tiefe bewegt, von einer immer heftigeren Gemütsregung erfasst werden (und
1989 wird in meine persönliche Geschichte eingehen, sicher werde ich später,
wenn ich mich an 1989 erinnere, an den Mauerfall denken, an meine Verwunderung,
dass Schweizer Studenten in ihrer Euphorie, ihrem Hunger nach Berlin reisen,
um den Fall der Mauer mitzuerleben, um zu
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