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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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Metallzaun festklammert und mit einer unheimlichen Stimme nach meiner
Grossmutter ruft: kedves Panni neni, Panni neni, kedves Panni neni (geliebte Frau Anna — Mamika,
die uns oft ermahnt hat, Juli nicht zu verspotten, Gott sucht sich manchmal
ganz besondere Geschöpfe aus, um mit uns zu sprechen, sagte sie), Julis Rufen,
das von einem glasklaren Wimmern unterbrochen wird, als würde das Leben nur
noch die Sprache des Schmerzes kennen, ich, die nicht mehr aufhören kann zu
weinen, vielleicht, weil Julis Füsse der Kälte schutzlos ausgesetzt sind, ihre
Zehen sich über ihre offenen, ausgelatschten Schuhe krümmen, und ich würde
etwas darum geben, wenn Juli mich mit ihren von der Zeit unbeeindruckten Augen
anschauen, mich um ein Zückerchen bitten würde, aber ihr Jammern zerrt am Gesetz des
Masshaltens, das in solchen Momenten das eigene Überleben sichert - denn es
darf nicht unerträglich sein, einen geliebten Menschen zu verlieren —, und ich
kann nicht mehr aufhören zu weinen, weil Juli mich unerbittlich daran erinnert,
dass jetzt ein Leben, mein Leben ohne Mamika beginnen muss.
    Kann man von einem Tag auf den
anderen, von einer Nacht auf die nächste in ein neues Leben hineinfahren? Das
frage ich mich, damals war es eine unbestimmte Aufregung. Wir fahren in die
Schweiz, sväjcba, haben Sie
zu uns gesagt, nachdem sich Onkel Móric an einem Nachmittag in Ihre Küche
gesetzt hat, die Papiere, a papirokat, auf den Tisch gelegt hat, die er auf der Botschaft in
Belgrad abgeholt hat. Ist alles gut gegangen, haben Sie ihn gefragt, ja, hat er
geantwortet, und ich sehe heute noch, wie der schmutzig weisse Umschlag auf
Ihrem Küchentisch liegt, neben der Flasche, dem Schnapsgläschen, das Onkel Móric
in einem Zug geleert hat. A papirok, die Papiere, das war immer etwas anderes gewesen als
alles andere, der wacklige Küchentisch, die weiss-blaue Emailleschüssel, die
Tassen aus Blech, der Haussegen mit seinen farbig glänzenden Buchstaben, die
Kredenz, in der Sie alles Kostbare aufbewahrt haben, und jetzt lagen sie also
auf dem Tisch, die Papiere, so leicht und ohne Anzeichen, dass sie etwas
Besonderes bedeuteten. Und auch an diesem Abend, als der Umschlag auf dem Tisch
liegen blieb, haben wir Brot gegessen, Käse, wir haben die Nachtvorhänge
zugezogen, Nomi und ich haben uns nebeneinander ins Bett gelegt, und Gott hat
uns zugezwinkert, während dem Beten, Sie haben uns mit Ihrer warmen Hand die
Wangen gestreichelt, vielleicht lagen wir wach, alle drei, vielleicht haben wir
geschlafen.
    Sväjcba, hatten Sie manchmal gesagt,
Vater und Mutter seien in der Schweiz, in einer besseren Welt. Und wissen Sie,
wie ich mir diese bessere Welt vorgestellt habe? "Besser" bedeutete
für mich einfach "mehr". Mehr von allen guten Dingen, die ich kannte.
Vater und Mutter lebten in einem Land, in dem es mehr Schweine gab, mehr
Hühner, mehr Gänse, da musste es Unmengen von Weizen geben, Mais, Sonnenblumen,
der Klatschmohn wuchs überall. In den Speisekammern hingen unzählige Würste,
grosse, wohlriechende Schinken, die Einmachgläser türmten sich auf den Regalen,
in der Schweiz gab es sicher nicht nur freitags Palatschinken, sondern jeden
Tag; trotzdem bedeutete es mir nichts, wenn Sie sagten, dass Mutter und Vater
Nomi und mich bald abholen würden. Ich ging raus, in den Garten, um den Satz
rasch zu vergessen.
     
    Mutter und Vater haben uns
nicht abgeholt, sondern Onkel Móric hat uns nach Belgrad gefahren, uns und
unsere Taschen, und er hat viel geredet, während dieser Fahrt im November, und
die Pappeln und die Linden, die Akazien, die graue Luft dazwischen, die leeren
Felder, die rauchenden Häuser und ich, die Cicu mitnehmen wollte, die
spindeldürre Katze, ich habe geweint, weil ich Cicu nicht mitnehmen durfte, was
willst du mit so einer struppigen Katze in der Schweiz, hat Onkel Móric
vermutlich gesagt und gelacht, und wir haben uns, bevor wir uns in den roten
Moskwitsch unseres Onkels gesetzt haben, von allem verabschiedet. Nicht so, wie
man sich das vorstellt, wir müssten dringend nochmals aufs Klo, obwohl wir
erst gerade auf dem Klo gewesen waren, und auf dem Weg zum Klo lag der
Schweinestall, unsere Zehen, die täglich mehrmals den Schweinchen in die Augen
geschaut hatten, weil sie zwischen zwei Brettern des Holzverschlags steckten,
die grunzenden, ständig sich bewegenden Nasen, die an unseren Zehen rochen,
uns kitzelten, und weil die Schweinchen uns kannten, haben wir ihnen Namen
gegeben, Schwarzfleckschweinchen, das

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