Abonji, Melinda Nadj
dass sie und ich, wenigstens wir zusammensitzen müssten, um
uns zu besprechen, zu planen, was wir tun könnten, ob wir uns nicht doch einmal
mit Benno treffen sollten, mit seiner Mediengruppe, ich würde Nomi gern fragen,
ob sie sich schon vorgestellt hat, dass unsere Familie diesen Krieg nicht
überlebt, dass Grossonkel Pista nicht operiert werden kann, weil wegen dem
Embargo die Medikamente fehlen, dass morgen vielleicht alle schon tot sind,
Onkel Piri und Tante Icu, Csilla, weil sie zu den Ärmsten gehören, Janka, die
Nomi sein könnte oder ich, von der ich nur weiss, dass sie ihr Wirtschaftsstudium
abgebrochen hat, unsere Heimatstadt verlassen hat und in Novi Sad als
Radiosprecherin arbeitet, unsere ganze Familie, die jetzt zur Vergangenheit
gehört, die nicht mehr erreichbar ist, die Berliner Mauer und der Eiserne
Vorhang existieren nicht mehr, und wir sind voneinander abgeschnitten, als
hätte es nie einen verbindenden Weg gegeben, einen Zug, den man besteigen kann,
der einem Fahrplan folgt, Schienen, die gelegt worden sind, wozu denn? Ich
möchte Nomi fragen, wie wir Janka suchen könnten, ob sie glaube, dass man Vater
nach Janka fragen könne, wie man das am Besten anstellen könnte (Nomi, die mir
ein paar Tage nach meinem zwanzigsten Geburtstag gesagt hat, dass wir unseren
Plan beerdigen müssten, es ginge nicht, wir könnten nicht zurück, das sei ein
Kindertraum, wir hätten unser Herz hergegeben, und darin habe sich ein hohler
Wunsch eingenistet, es sei doch bekannt, das typische Emigrantenschicksal, für
die Zukunft sparen und dann in der alten Heimat unglücklich sein?, nein!, ich,
die Nomi gefragt hat, ob sie hier glücklich sei, Nomi, die gelacht hat, wir
sind Mischwesen und die seien tendenziell glücklicher, deshalb, weil sie in
mehreren Welten zu Hause seien, sich wo auch immer zu Hause fühlten, sich aber
nirgendwo zu Hause fühlen müssten), und Nomi, die ein Allrounder ist, in der
Küche arbeitet, im Buffet, im Service, mit den Vertretern verhandelt, von allen
gemocht wird, sie erinnert mich daran, dass die Zeit nicht optimal sei, wir
hätten das Geschäft zu einem ungünstigen Zeitpunkt übernommen, aber wir schaffend
trotzdem!, wenn es keine Leute gäbe, die uns mögen würden, würden wir ja gar
nicht erfahren, was über uns geredet werde!, und Nomi klopft die Stummel in
den Müll, oder? Und wenn die Schärers immer noch überall herumerzählten, wir
hätten die Tanners bestochen, mit fünfzigtausend!, was ihr übrigens neulich
Frau Freuler anvertraut habe, dann sagen wir, nein!, hunderttausend!, wer hat
behauptet, wir seien so knauserig? (und was ist mit der Herrentoilette, die
ständig verpisst ist, will ich Nomi fragen, warum hat uns jemand die Tür mit
falsch lachenden Sonnen verklebt?), Nomi, die mich darauf aufmerksam macht,
dass es bereits nach elf Uhr ist, und ich spanne die Kolben aus der Cimbali,
klopfe den Kaffeesatz der Reihe nach in den Behälter, spanne die Kolben
wieder ein, lasse die Maschine ein Mal leer laufen, reinige mit einem
dichtborstigen Pinselchen die Rillen der Maschine vom Kaffeesatz — das regelmässige
Reinigen der Maschine ist die Voraussetzung für einen guten Kaffee —, fahre mit
einem nassen Lappen um die Halterungen, wische so das verbliebene Kaffeepulver
von den Sieben, die Cimbali, die ich ziemlich genau kenne, meine Hände, die ich
in Verbindung mit der Cimbali immer genauer kennengelernt habe (Nomi und ich,
die mit den Händen von Tante Icu arbeiten, davon bin ich überzeugt), hast du
dir schon mal überlegt, dass die Situation in der Vojvodina ähnlich eskalieren
könnte wie in Bosnien, sage ich leise zu Nomi, über die Cimbali hinweg, und
meine Zunge fühlt sich beim Wort "eskalieren" nicht wohl, so unwohl
wie bei "Balkankrieg" oder "Embargo". Ja, antwortet Nomi
und klopft die Aschenbecher weiter an den Rand des Mülleimers, und wir schauen
einander an, und ich sehe meine Schwester, die ich liebe, die jetzt, in diesem
Moment, genauso ratlos ist wie ich.
Juli
Mit unserem silbergrauen
Mercedes fahren wir los, im April 1989, Vater und ich, das heisst Vater fährt,
und ich sitze neben ihm, bin bereit, die Strassenkarte zu zücken, zu
verhindern, dass wir uns verfahren, ich, die Autofahren schon immer verabscheut
hat, versuche, mich zu konzentrieren, den Fahrer, meinen Vater, nicht mit
unnötigem Geschwafel abzulenken. Wir fahren über München, sagt er kraftlos und:
Schalt das Radio an, damit wir hören, was sie über den Verkehr sagen.
Sie
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