Abonji, Melinda Nadj
jubeln, dass sie jetzt bei einem
historischen Moment dabei sein können; sicher werde ich an vieles denken, das
1989 geschah, aber in meiner Geschichte wird in diesem Jahr Mamika gestorben
sein, ich werde für mehr als ein Jahrzehnt das letzte Mal in meiner Heimat
gewesen sein, und meinen Vater werde ich so gesehen haben wie noch nie zuvor),
aber ich will mich weigern, traurig zu sein, als ich die Aufschriften lese, die
die Schleifen der Blumenkränze schmücken, Deine Dich liebenden Söhne, ruhe in
Frieden; unsere liebe Frau Anna, die von uns gegangen ist, schluchzt eine von
Mamikas Freundinnen. Deine Dich liebenden Enkelinnen, denke ich und drücke
mich in meine Schuhe, warte auf den geeigneten Moment, um die winzigen, blauen
Blümchen auf den Sarg zu werfen, der unerwartet dumpfe Aufprall des
Sträusschens, an den ich mich heute noch erinnere, und in Gedanken singe ich
eines von Mamikas Lieblingsliedern: Wenn ich ein Fluss wäre, wäre Schmerz mir fremd, zwischen
Bergen und Tälern würde ich leise /Hessen, die Ufer umspülen, die Gräser zum
Leben erwecken, den durstigen Vögeln Wasser schenken ...
Und nachdem alle eine Handvoll
Erde auf Mamika geworfen haben, die einen noch mit gedämpften Stimmen etwas zu
Mamikas beschwerlichem Leben zu sagen gewusst haben und andere, so auch mein
Vater, immer wieder von den Tränen überwältigt worden sind, setzen wir uns, an
diesem bitterkalten Apriltag 1989, endlich wieder in Bewegung; die
Kastanienbäume, deren schüchterner Frühling durch den gestrigen Wintereinbruch
gestört worden ist, die aber durch ihr leuchtendes Weiss die Schwere unserer
Trauergesellschaft glücklicherweise nicht ernst nehmen.
Mein kleines Mädchen, sagte
Mamika, Wasser ist Gold.
Ich, die gelernt hat, Wasser
vom Ziehbrunnen zu holen, nicht zu trödeln, sich nicht ablenken zu lassen von
den Rosen, den Nachtviolen, die neben dem Ziehbrunnen wachsen, von der Katze,
die spindeldürr mit gestrecktem Schwanz um meine Beine streicht, die Mamika
bei jeder Gelegenheit als Schmarotzerin und Taugenichts beschimpft, ich trage
die emaillierte, bis zum Rand gefüllte Kanne mit beiden Händen, Füsse, die
langsam, aber stetig vorwärts trippeln, um ja nichts zu verschütten, keinen
einzigen Tropfen, flüssiges Gold, sagt Mamika, als sie sich nach mir mit dem
trüben, seifigen Wasser wäscht, im Badezimmer, das gleichzeitig die Küche ist,
meine Augen, die nicht hinsehen wollen, nur neugierig und schamvoll blinzeln,
um ein kleines bisschen Gold von Mamikas Haut zu stehlen. Warum ziehen Sie Ihr
Unterkleid nicht aus?, frage ich, meine Grossmutter, die ihren Zopf gelöst hat,
deren graues Haar bis zu den Hüften reicht, sagt, Liebes, geh in den Garten,
spiel etwas Schönes, geh schon! Und ich schiebe meinen senfgelben Schemel zur
Hauswand, besteige ihn, halte mich zuerst gebückt, strecke mich dann langsam,
ziehe den geblümten Vorhang des geöffneten Küchenfensters zur Seite, Mamika,
die sich über die Emailleschüssel beugt, und ich kann ihren nackten Rücken
sehen und ihre überdimensionierte Unterhose, rosafarben, eine Art Kosakenhose,
die wegen dem sich unterhalb der Knie befindlichen Gummizug hässlich pludert.
Und ich wünsche mir augenblicklich, diese Unterhose nie gesehen zu haben, weil
sie in ihrer Grösse und Unförmigkeit beschämend ist, meine zierliche Mamika,
die völlig unverständlicherweise in diesem Sack steckt, in dem man leicht zwei
mal zwei Hühner verschwinden lassen könnte. In dieser Unterhose dürfte sie in
der Schweiz nicht einmal schlafen, dachte ich damals, und dieser Gedanke kam
mir gemein vor, gemein, aber logisch.
Warum fällt mir gerade das
ein?, und ich hebe den Kopf, um den Himmel zu sehen in seiner Ratlosigkeit,
mein Vater, der sich bei mir einhakt, es nicht vermeidet, mich mit verweinten
Augen anzuschauen, und wir entfernen uns langsam von Mamikas Grab, Cousins,
Cousinen, nahe und entfernte Verwandte, Grossonkel Pista, der letzte noch
lebende Bruder von Mamika, Onkel Móric, der seinem Bruder - meinem Vater — die
Hand auf die Schulter legt, und ich weiss später nicht mehr, ob dieses
monotone, fast lautlose Gehen unserer Familie, der Gang eines Kollektivs, das
durch den Verlust eines geliebten Menschen nur noch den beschwerlichen Lauf
der Dinge spürt, dafür verantwortlich ist, dass die Tränen plötzlich aus mir
herausbrechen, als hätte ich noch nie in meinem Leben geweint; oder ob es
womöglich Juli ist, die kindliche Idiotin!, die sich beim Friedhofsausgang am
rostigen
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