Abonji, Melinda Nadj
Vertrautheit, die uns
verbindet, wir brauchen keine Aufwärmzeit, sondern knüpfen direkt da an, wo wir
das letzte Mal aufgehört haben, auch wenn Monate zwischen unserem jetzigen und
unserem letzten Treffen liegen, und wir sprechen Deutsch, wechseln immer wieder
ins Ungarische, in einem raschen Rhythmus erzählen wir uns, wie es geht, im
Leben, bei der Arbeit, die Probleme mit unseren Eltern, und oft denke ich, dass
wir uns häufiger sehen sollten, unsere Treffen nicht abhängig sein sollten von
denjenigen unserer Eltern, aber wahrscheinlich wissen wir alle, dass es
ausserhalb dieses Kosmos nicht funktionieren würde.
Hast du dich verliebt, fragt
mich Attila ohne Umschweife, du siehst so verliebt aus, Dalibor heisst er,
antworte ich, szerelmes, ja, bis über beide Ohren, sagt Nomi, skerelmet, füstöt, köhögest
nem lebet eltitkolni, Liebe, Rauch und Husten könne man nicht verheimlichen,
sagt Aranka, und wir lachen über dieses ungarische Sprichwort, und ich muss von
meiner neuen Liebe erzählen, auch deswegen, weil Dalibor aus Jugoslawien kommt,
ich erzähle, wie wir uns kennengelernt haben, dass ich eigentlich nicht so
viel weiss, von ihm, die ersten paar Wochen war er in Chiasso, dann in
Kreuzungen, ein Flüchtling, fragt Aranka, ja, anerkannter Flüchtling, aber
immer noch arbeitslos, und ich erzähle, wie schwierig es für Dalibor ist,
Arbeit zu finden — unsere Eltern, die uns zuwinken, uns auffordern, auch zu
tanzen, vielleicht später, sagen wir, wir seien noch nicht in Tanzstimmung —
und deine Eltern?, hast du ihn schon vorgestellt?, ist noch zu früh, antworte
ich schnell, wir kennen uns erst seit ein paar Wochen. Serbe, fragt Aranka. Ja,
Serbe, der in Kroatien gelebt hat, in Dubrovnik. Also schwierig für deinen
Vater, schwierig oder unmöglich, antworte ich (und wir haben schon oft scherzhaft
spekuliert, wie wir die Stecknadel im Heuhaufen finden könnten, den idealen
Mann, den sich unsere Väter für ihre Töchter wünschen, zuallerletzt einen
Serben, sicher keinen Russen, aber auch keinen Schweizer, der ideale Mann ist
ein Ungar, am allerbesten ein vajdasägi magyar, ein Vojvodiner Ungar, dem man
Geschichte nicht erst erklären muss, der weiss, was es heisst, einer Minderheit
anzugehören, und weil er das weiss, ist er auch ausgewandert, in die Schweiz,
ein Vojvodiner Ungar, der erfolgreich ist in der Schweiz, einen richtigen Beruf
hat, also nichts mit Reden oder Malen oder Musik; er hat ausserdem Haare
oberhalb der Lippen und kurzes Haupthaar, zückt immer als Erster, unauffällig,
das Portemonnaie, er lässt sich nie von einer Frau einladen und isst gern
schweres, männliches Essen, das Gegenteil also von jenen bleichen Männern, die
so viel Gemüse und Salat essen wie die Kühe Gras, seine Kleidung ist korrekt,
vor allem seine Schuhe, er war im Militär und geht sicher nie demonstrieren in
einem demokratischen Land, womöglich noch am 1. Mai!), vielleicht trauen wir
unseren Vätern zu wenig zu, meint Nomi, wir glauben ja ständig zu wissen, wie
sie reagieren, sicher nicht grundlos, meint Attila und bittet mich zum Tanz,
dagegen kann ja dein Vater nichts haben, wenn ich mit dir tanze, sagt er, und
wir stehen auf, der Geiger macht ein paar Schritte auf uns zu, fragt uns
während des Spielens, ob wir wüssten, was dem Geburtstagskind besonders
gefallen würde, und ich sage sofort, Wenn ich einmal viel Geld habe, setze ich mich ins
Flugzeug, Mutter,
die, als die Musiker die ersten paar Takte spielen, stehen bleibt, Vater an der
Hand hält und nach der ersten Strophe in Tränen ausbricht, und Mutters Weinen
ist ansteckend, wir alle haben Tränen in den Augen (und es sollte ein eigenes
Wort geben für ein ansteckendes Weinen, denke ich), auch Frau Köchli und Frau
Freuler langen nach ihren Taschentüchern, obwohl sie ja den Text nicht verstehen
und das Lied einen beschwingten Rhythmus hat, Vater, der Mutter wieder um die
Hüfte fasst und im Takt der Musik durch den kleinen Saal ruft: Auf meine Rózsa,
auf ihren runden Geburtstag!, auf meine schöne, geliebte Rose, dass wir noch
viele Jahre zusammen feiern können! Attila und ich, wir tanzen neben den
Schwestern, ich übersetze, was Vater ruft, und die Musiker spielen jetzt einen
Tusch, Vater, der dem Kellner schnippt, er solle den Champagner bringen, und
Vater schüttelt die Flasche, es muss schäumen, sagt er, das bringt Glück, wenn
der Boden ein paar Spritzer abbekommt!, und wir stossen an, wir überbringen
Mutter gute Wünsche, wollen sie zum
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