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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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Tisch führen, damit sie die Geschenke
aufmacht, aber Mutter winkt ab, es sei noch zu früh für die Geschenke, sie
wolle noch ein paar Worte sagen, und wir bleiben stehen, bilden einen Halbkreis
um Mutter, die ihre rechte Hand auf ihren Brustkorb legt, und Mutter sagt
zweisprachig, dass sie sich sehr freue, dass wir alle gekommen seien, um mit
ihr zu feiern, und Mutter lässt sich Zeit, überlegt, fährt sich mit der Hand
über die Stirn (Nomi, die neben mir steht, sich bei mir einhängt), ich bin
jetzt fünfzig Jahre alt, sagt Mutter, und mit meinen fünfzig Jahren kann ich
mich ganz genau erinnern, wie mir meine Mutter zum ersten Mal ein Kleid
geschenkt hat, das sie selber genäht hat, zu meiner Kommunion, und ich will
euch jetzt nicht langweilen und euch beschreiben, wie das Kleid ausgesehen
hat, aber dieses Kleid habe ich getragen, bis ich fünfzehn war, meine Mutter
hat es so genäht, dass jedes Mal, wenn sie den Saum um ein Stückchen gelöst
hat, ein neues Muster zum Vorschein gekommen ist, und als kein Saum mehr da
war, hat sie ein bisschen Spitze ans Kleid genäht (Mutter, die mit den Händen
ihre Worte illustriert, mich bittet, Spitze und Saum ins Deutsche zu
übersetzen), und als ich wirklich nicht mehr ins Kleid passte, hat sie aus dem
Stoff Kissenbezüge gemacht, und heute habe ich, ich kann euch nicht sagen
warum, die Kissen aus ihren Bezügen genommen, ich bin mit meiner Hand über den
Stoff gefahren, und erst heute ist mir aufgefallen, dass meine Mutter etwas in
den Stoff gestickt hat, so fein, dass man es nur sieht, wenn man den Stoff
schräg gegen das Licht hält, für meine geliebte Tochter, das habe ich heute gelesen,
an meinem fünfzigsten Geburtstag — und Mutter sagt, ihr Herz sei davon immer
noch so in
Berührung, dass
sie es uns habe erzählen müssen (und ich, die in Nomis Arm spürt, dass sie
berührt ist, von Mutters Worten, und ich weiss, dass Nomi an die Kissen denkt,
die immer im Schlafzimmer unserer Eltern aufgestellt sind, von denen wir bis
anhin nur gewusst haben, dass sie für Mutter eine besondere Bedeutung haben); Mutters
Mutter, die jetzt mitten unter uns steht, mit einem hellen Faltenrock im Stil
der 20er Jahre, einer bestickten Bluse, einem Blumenkranz und einem kleinen
Schleier, die ihre Haare schmücken; und mein Blick verschiebt sich, bleibt am
rechten Fuss, an der rechten Ferse hängen, die eingebunden ist, eine Ecke des
Verbandes, die vom schwarzen Schuh nicht überdeckt wird; der Blick von Mutters Mutter,
schön, gross, wissend, Augen, die nach hinten und nach vorne schauen, in eine
Zukunft mit einem acht Jahre älteren Mann, weder glücklich noch unglücklich,
sondern unausweichlich, der Bund mit einem um fast zwei Köpfe grösseren Mann,
mit hochrasiertem Haar, eine Hose, die in Stiefeln steckt, eine Hand, die die
hellen Handschuhe hält.
    Sie haben Ihre Mutter sehr
geliebt, nicht wahr, sagt Frau Köchli leise zu Mutter, als wir am Tisch sitzen,
Mutter die Geschenke geöffnet und sich bei allen bedankt hat, die Kellner die
Vorspeisen auftragen; Mutter, die Frau Köchlis Hand nimmt, ja, sagt sie, ich
liebe sie immer noch, und hier, schauen Sie, das ist meine Schwester Icu, mein
Mann hat dieses Foto von ihr vergrössert, damit sie heute bei uns ist, sie
fehlt mir genauso wie meine Mutter; Mutter, die Frau Köchli erzählt, von Tante
Icu, dass ihre Schwester siebzehn Jahre älter sei als sie, deswegen sei sie
allein aufgewachsen, ohne die Schwestern, ja, sie habe noch eine Schwester, die
ein Jahr jünger sei als Icu, aber mit ihr habe sie nichts mehr zu tun, ein
böser Streit, sagt Mutter, und alle unterhalten sich angeregt um mich herum,
löffeln Suppe, nippen an Weingläsern, prosten zwischendurch Mutter zu, Vater,
der mit Zoltán am Politisieren ist; ich aber höre nur Mutters Stimme, weil sie
Frau Köchli erzählt, was sie eigentlich mir erzählen müsste, ich höre ihr zu
und überlege gleichzeitig, was der Grund sein könnte, dass es ihr offenbar
leicht fällt, Frau Köchli Dinge zu erzählen, von denen ich nichts weiss, und
ich überlege mir, ob Mutter hofft, dass ich ihr zuhöre, während sie erzählt,
ich jedenfalls tue so, wie wenn ich ganz mit dem Essen beschäftigt wäre. (Und
zwischendurch schaue ich zu Nomi, die rechts von mir sitzt, die sich mit Aranka
unterhält, ihr irgendwas über die Häuserbesetzerszene erzählt, über Punks,
Konzerte, dass sie es witzig finde, da reinzusehen, und ich nicke manchmal,
sage vielleicht sogar etwas, aber ich bin ganz

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