Abraham Lincoln - Vampirjäger
aufgebahrt lag. Rundherum standen Soldaten, die als Wachen fungierten; und da waren Scharen von Menschen, die den Toten, dessen Gesicht verdeckt war, traurig betrachteten, und andere, die fürchterlich weinten. »Wer aus dem Weißen Haus ist denn gestorben?«, fragte ich einen der Soldaten. »Der Präsident«, lautete seine Antwort. »Er wurde von einem Attentäter ermordet.« Die Menge schluchzte lauthals auf, und ich erwachte. In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf mehr.
II
John Wilkes Booth verabscheute Sonnenlicht. Es reizte seine Haut, brannte in seinen Augen. Es ließ die fetten, rosaroten Gesichter der großspurigen Nordstaatler leuchten, wenn sie auf der Straße an ihm vorbeigingen, sich mit den Siegen der Union brüsteten und das Ende der Rebellion feierten. Ihr habt ja keine Ahnung, um was es in diesem Krieg geht. Der Sechsundzwanzigjährige hatte die Dunkelheit schon immer vorgezogen – lange bevor er ihr Diener wurde. Sein Zuhause war von jeher die Bühne gewesen. Mit ihren geflochtenen Kordeln und Samtvorhängen. Ihrem warmen Gaslichtschein. Das Theater war immer der Mittelpunkt seines Lebens gewesen, und es war auch ein Theater, das er um die Mittagszeit betrat, um seine Post in Empfang zu nehmen. Es würden zweifelsohne Briefe seiner Bewunderer auf ihn warten – vielleicht von jemandem, der seinen legendären Marcus Antonius in New York gesehen hatte oder fasziniert von seiner Darstellung des Herzog von Pescara in dem Stück The Apostate war, eine Rolle, die er erst kürzlich auf ebenden Brettern gespielt hatte, auf denen er nun stand.
Eine Tür hinter der Bühne stand offen, damit das Tageslicht hereinfallen konnte, genauso wie die Ausgänge im hinteren Teil des Zuschauerraumes, aber trotzdem war es im Ford’s Theater ziemlich düster. Die Balkone auf dem ersten und zweiten Rang lagen im Schatten, und jedes Mal, wenn Booths Absätze die Bühne berührten, erfüllte das Echo die Leere. Es gab keinen Ort, der ihm lieber war – an dem er sich mehr zu Hause fühlte – als dieser. Booth verbrachte die Tageslichtstunden oft in abgedunkelten Theatern, dann schlief er auf einer Galerie, las bei Kerzenschein in einer der Logen oder sagte seinen Text vor einem Geisterpublikum auf. Ein leeres Theater ist wie ein Versprechen. So heißt es doch, oder? Ein leeres Theater ist wie ein unerfülltes Versprechen. In ein paar Stunden würde alles um ihn herum voller Licht und Lärm sein. Erfüllt mit Gelächter und Applaus. Eine schillernde Menge, dicht gedrängt in ihren schillernden Gewändern. Heute Abend würde sich das Versprechen erfüllen. Und dann, nachdem der Vorhang gefallen und die Gasbeleuchtung ausgelöscht wäre, bliebe da wieder nur die Dunkelheit. Das war das Schöne daran. Das war es, was das Theater ausmachte.
Booth bemerkte zwei Männer, die etwa zehn Fuß über ihm auf der linken Theaterseite arbeiteten. Sie entfernten gerade die Trennwand zwischen zwei kleinen Logen, um eine große daraus zu machen, zweifelsohne für eine Persönlichkeit von Rang und Namen. In einem der Bühnenarbeiter erkannte er Edmund Spangler, ein rotgesichtiger alter Bekannter mit schwieligen Händen und ein fester Bestandteil der Belegschaft.
»Und wer werden deine hochverehrten Gäste heute sein, Spangler?«, erkundigte sich Booth.
»Der Präsident und die First Lady, Sir – begleitet von General Grant und seiner Frau.«
Ohne ein weiteres Wort verließ Booth eilig das Theater. Seine Post würde er niemals in Empfang nehmen.
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Es mussten Freunde kontaktiert, Pläne geschmiedet, Waffen hergerichtet werden – und das alles in so kurzer Zeit. So wenig Zeit, aber solch eine Gelegenheit! Er begab sich schnurstracks in Mary Surratts Pension.
Mary, eine einfache, rundliche, dunkelhaarige Witwe, war Booths frühere Geliebte und eine glühende Sympathisantin der Südstaaten. Sie hatte ihn Jahre zuvor kennengelernt, als er Gast in der Taverne ihrer Familie in Maryland gewesen war. Obwohl sie vierzehn Jahre älter war als er, hatte sie sich leidenschaftlich in den jungen Schauspieler verliebt, und die beiden hatten sich auf eine Affäre eingelassen. Nachdem ihr Mann verstorben war, hatte Mary die Taverne verkauft und war nach Washington gezogen, wo sie eine kleine Pension eröffnete. Booth war dort oft zu Gast – aber in den letzten Jahren zeigte er immer weniger Interesse an den »fleischlichen Begierden«. Marys Gefühle für ihn blieben nichtsdestotrotz unverändert. Also zögerte sie nicht, als Booth sie bat, zu
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